Die Brandmauer zur AfD: Prinzip oder Selbstblockade?
Ich habe mir lange überlegt, ob ich zu diesem Thema etwas schreibe. Die Brandmauer zur AfD ist emotional aufgeladen, polarisiert und lässt wenig Raum für Zwischentöne. Aber genau da bewege ich mich gerade: im Zwischenraum. Zwischen der klaren Haltung “Keine Koalition mit Rechtsextremen – niemals” und der Frage, ob diese Position wirklich in jeder Abstimmung auf jeder politischen Ebene gleich gelten muss.
Meine Position – differenziert, aber klar
Vorweg, damit keine Missverständnisse entstehen: Auf Bundesebene und bei Fragen der Regierungsbildung muss die Brandmauer halten. Koalitionen mit der AfD, Tolerierungen, gemeinsame Regierungsverantwortung – das darf es nicht geben. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus historischer Erfahrung: Keine konservative Partei hat von solchen Experimenten dauerhaft profitiert. Die meisten wurden dadurch geschwächt oder zerstört.
Aber bei kommunalen Sachfragen, bei unpolitischen Verwaltungsentscheidungen? Da habe ich Zweifel, ob die aktuelle Praxis wirklich klug ist.
Die AfD wird vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft[1], ihre Positionen sind menschenverachtend, ihre Pläne zur “Remigration” sind brandgefährlich. Das steht außer Frage. Aber die aktuelle Debatte um Peter Tauber, Karl-Theodor zu Guttenberg und Andreas Rödder hat mich zum Nachdenken gebracht – nicht weil ich ihre Positionen vollständig teile, sondern weil sie einen Punkt ansprechen: die Selbstblockade der demokratischen Parteien bei alltäglichen Sachfragen.
Das Problem mit der aktuellen Praxis
Tauber und Co. fordern keine Koalition mit der AfD. Sie fordern keine Absprachen, keine gemeinsame Politik, keine Normalisierung.[2] Was sie fordern, ist eine “Politik der roten Linien”: Die CDU soll klare Grenzen haben – keine Koalition, keine Tolerierung, keine Posten – aber inhaltliche Entscheidungen nicht davon abhängig machen, wie die AfD abstimmt.[3]
Das klingt zunächst abstrakt. Aber es wird konkret, wenn man sich anschaut, was aktuell passiert: Die Union bringt Anträge nicht ein oder zieht sie zurück, weil sie befürchtet, die AfD könnte zustimmen.[4] SPD und Grüne fordern regelmäßig, Abstimmungen zu verschieben oder Gesetzentwürfe zurückzuziehen, wenn eine Mehrheit nur mit AfD-Stimmen möglich wäre.[5]
Im Januar 2025 kam es zum ersten Mal in der Geschichte des Bundestags dazu, dass ein Antrag der Union zu “Zurückweisungen an den deutschen Grenzen” mit Stimmen von AfD und FDP eine Mehrheit bekam.[6] Die Reaktionen waren heftig. Kanzler Olaf Scholz nannte es ein “schlechtes Zeichen für das Parlament und das Land”.[7] Friedrich Merz verteidigte sich: Es sei “um die Sache gegangen”, die Zustimmung der AfD sei “nicht gewollt, aber hinzunehmen”.[8]
Hier muss man unterscheiden: Auf Bundesebene, wo es um Regierungsbildung und Machtfragen geht, war die Kritik an Merz berechtigt. Das war ein gefährliches Spiel. Aber auf Kommunalebene, bei unpolitischen Verwaltungsfragen? Da wird es komplizierter.
Wenn Prinzipien zur Blockade führen
Und hier wird es kompliziert. Denn die Konsequenz der aktuellen Praxis ist absurd: Wenn die AfD taktisch klug agiert, kann sie durch ihre Zustimmungsankündigung faktisch Vetorecht über Gesetzesinitiativen ausüben. Man stelle sich vor: Die AfD sagt öffentlich “Wir stimmen dafür”, und die Union zieht ihren Antrag zurück – obwohl sie ihn für richtig hält.
Das ist keine theoretische Überlegung. Das Hamburger Beispiel macht es deutlich.
Das Palazzo-Poletto-Debakel
2023 wollte Starköchin Cornelia Poletto ihre Dinnershow “Palazzo” in einem Festzelt auf der Kleinen Moorweide in Hamburg-Eimsbüttel veranstalten. Ein unpolitischer Antrag zur Nutzung einer öffentlichen Fläche für ein Event. In der Bezirksversammlung stimmten SPD, CDU, FDP und AfD dafür, Grüne und Linke dagegen.[9]
Was dann passierte, grenzt an Realsatire: Zwei SPD-Mitglieder verließen vor der Abstimmung den Saal, um zu verhindern, dass die AfD eine entscheidende Rolle spielt. Bei Stimmengleichheit galt der Antrag als abgelehnt. Die SPD erklärte danach, man halte “an der allgemeinen Linie der Bundespartei im Umgang mit der AfD” fest und wolle “grundsätzlich keine Mehrheiten – egal bei welcher Abstimmung – mithilfe der AfD herstellen”.[10]
Das Ergebnis: Keine Palazzo-Show. Nicht weil der Antrag inhaltlich falsch war. Sondern weil die AfD zustimmte.
Ist das noch Prinzipientreue oder schon Selbstblockade?
Was wenn die AfD richtige Positionen vertritt?
Das führt mich zu der unbequemen Frage: Was passiert, wenn die AfD tatsächlich mal einer Position zustimmt, die richtig ist? Muss man dann automatisch dagegen sein, nur weil die AfD dafür ist?
Die wissenschaftliche Forschung ist bei Koalitionen und struktureller Zusammenarbeit eindeutig: Eine WZB-Studie von 2025 zeigt, dass die Brandmauer in 81% der Fälle hält und funktioniert.[11] Internationale Vergleiche belegen, dass die Aufhebung des “Cordon sanitaire” radikale Rechte noch nie langfristig geschwächt hat.[12] Im Gegenteil: Kooperationen normalisieren und stärken sie. Jede Form von Regierungsbeteiligung oder Tolerierung hat rechtspopulistische Parteien gestärkt, nicht geschwächt.
Aber die Studien beziehen sich auf formelle Zusammenarbeit, Koalitionen, programmatische Anpassung. Nicht auf die Frage, ob man einen eigenen Antrag zurückziehen soll, nur weil die AfD ihm zustimmt.
Das ist die Grauzone. Und genau hier wird es kompliziert.
Bundes- vs. Kommunalpolitik
Die Antwort liegt vielleicht in der Differenzierung zwischen verschiedenen politischen Ebenen und Fragestellungen.
Auf Bundesebene geht es um Regierungsbildung, um Koalitionen, um die Frage, wer das Land führt. Hier ist die Brandmauer absolut notwendig und darf nicht aufgeweicht werden. Wer der AfD hier die Hand reicht, riskiert nicht nur die eigene Partei, sondern die Demokratie selbst. Die historische Erfahrung zeigt: Konservative Parteien, die mit Rechtspopulisten koalierten, wurden dadurch meist selbst geschwächt oder vernichtet. Die AfD braucht Koalitionspartner, um an die Macht zu kommen – wer ihr diese gibt, macht sich zum Steigbügelhalter für eine Partei, die nachweislich demokratische Spielregeln zu ihren Gunsten verändert, sobald sie kann.
Auf Kommunalebene bei Sachfragen sieht es anders aus. Wenn es um Verkehrsführungspläne, Spielplatzplanungen, die Nutzung einer Wiese für eine Dinnershow geht – macht das “AfD-Vetorecht” hier noch Sinn? Eine WZB-Studie zeigt, dass die Brandmauer besonders in strukturschwachen ostdeutschen Regionen unter Druck steht, wo die AfD teilweise stärkste Kraft ist.[13] Dort führt die strikte Ausgrenzung zu zunehmend unregierbar werdenden Parlamenten. Manche Abgeordnete meiden Themen oder Initiativen, nur weil sie befürchten, die AfD könnte zustimmen – selbst wenn das Thema sinnvoll wäre.[14]
Die Frage ist: Wo genau verläuft die Grenze zwischen notwendiger demokratischer Brandmauer und selbstschädigender Blockade? Und wer garantiert, dass eine Lockerung auf Kommunalebene nicht schleichend auch auf höheren Ebenen Wirkung entfaltet?
Wo ist die Grenze?
Nach längerer Auseinandersetzung mit dem Thema ist mir eines klar geworden: Die Brandmauer bei Koalitionen und Regierungsverantwortung muss absolut bleiben. Nicht weil ich “links” wäre oder der Union schaden will – sondern aus drei nüchternen Gründen.
Erstens: Es gibt international kein Beispiel einer konservativen Partei, die von einer Zusammenarbeit mit Rechtspopulisten dauerhaft profitiert hätte. Im Gegenteil: Viele haben dadurch ihre führende Stellung verloren oder wurden politisch zerstört. Die Verfassungsblog-Analyse zeigt, dass kein einziges Gegenbeispiel existiert, in dem das Aufheben des “Cordon sanitaire” radikale Rechte langfristig geschwächt hat.[12]
Zweitens: Rechtspopulistische Parteien verändern die demokratischen Spielregeln zu ihren Gunsten, sobald sie an die Macht kommen. Absolute Mehrheiten erreichen sie typischerweise nicht durch überzeugende Politik, sondern durch Manipulation des Wahlrechts oder Einschränkung demokratischer Mitbewerber. Die Beispiele aus Ungarn, Polen und der Türkei sprechen hier eine deutliche Sprache.
Drittens: Die AfD steht bei 26% in der Sonntagsfrage.[15] Sie braucht Koalitionspartner. Wer ihr diese gibt, ebnet ihr den Weg zur Macht – auch wenn die eigenen Absichten noch so gut gemeint sind. Das ist keine ideologische Position, sondern historische Erfahrung.
Deshalb: Keine Koalitionen mit der AfD. Keine Absprachen. Keine gemeinsame Regierungsverantwortung. Keine Normalisierung ihrer rechtsextremen Positionen. Selbst wenn das bedeutet, dass komplizierte oder ungewöhnliche Koalitionen zur Norm werden. Lieber eine wacklige Vierparteienkoalition als die Zerstörung der demokratischen Grundordnung.
Was jetzt?
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder sagt: “Die Brandmauer funktioniert und sollte konsequent aufrechterhalten werden.”[16] Der Journalist Paul Ronzheimer ist skeptisch gegenüber Taubers Vorstoß und warnt vor “schleichender Normalisierung”.[17] Der Historiker Andreas Rödder argumentiert: “Je höher man die Brandmauer gezogen hat, desto stärker ist die AfD geworden.”[18]
Ich denke: Alle drei haben teilweise recht – aber für unterschiedliche Ebenen.
Auf Bundesebene und bei Koalitionen ist die Brandmauer unverzichtbar. Wer glaubt, die AfD durch Einbindung zu “entzaubern”, ignoriert die historische Erfahrung: Keine konservative Partei hat von solchen Experimenten profitiert. Die meisten wurden dadurch geschwächt oder zerstört. Die Brandmauer schützt nicht nur die Demokratie – sie schützt auch die Union selbst.
Aber bei parlamentarischen Einzelabstimmungen auf Kommunalebene, bei unpolitischen Sachfragen wie der Nutzung einer Wiese für eine Dinnershow? Da bin ich weniger sicher. Das Palazzo-Poletto-Beispiel zeigt: Die aktuelle Praxis hat Schwächen. Sie gibt der AfD faktisch ein Vetorecht durch Zustimmungsandrohung. Das ist absurd.
Vielleicht ist der Mittelweg genau das, was Tauber meint: Klare rote Linien bei Macht und Regierungsverantwortung. Aber keine Selbstzensur bei Sachfragen, bei denen es um konkrete Lösungen geht – nicht um Ideologie. Die Frage ist nur: Wo genau verläuft diese Grenze? Und wer garantiert, dass sie nicht schleichend verschoben wird?
Friedrich Merz wird sich nach dem Januar-Debakel vermutlich nicht noch einmal der Kritik aussetzen, seine Versprechen zu brechen. Die aktuelle Praxis wird weitergehen – auch wenn sie offensichtlich nicht funktioniert. Die AfD wächst, komplizierte Koalitionen werden zur Norm, und die Frustration in der Bevölkerung steigt.
Die eigentliche Herausforderung ist nicht die Brandmauer-Frage. Die eigentliche Herausforderung ist: Wie schaffen wir es, dass Menschen der AfD wieder den Rücken kehren? Aber darauf hat derzeit niemand eine überzeugende Antwort.
PS: Können wir uns bitte darauf einigen, dass das Wort “Brandmauer” schrecklich ist? Es klingt nach Bunker, nach Abschottung, nach Angst. Es ist ein defensives Bild für etwas, das eigentlich offensiv sein sollte: die aktive Verteidigung demokratischer Werte. Vielleicht wäre es Zeit, über eine bessere Metapher nachzudenken. Nur so als Vorschlag.
Quellen
[1] Tagesschau: AfD und Union – Diskussion um die Brandmauer – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/afd-union-brandmauer-100.html
[2] ZDF: Brandmauer zur AfD – Diskussion in der Union – https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/afd-brandmauer-cdu-csu-union-tauber-zu-guttenberg-100.html
[3] Zeit Online: Brandmauer zur AfD – Tauber und zu Guttenberg fordern Neuausrichtung – https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-10/brandmauer-union-afd-tauber-zu-guttenberg
[4] Stern: Union streitet erneut um Brandmauer zur AfD – https://www.stern.de/gesellschaft/regional/bayern/parteiinterne-diskussion–union-streitet-erneut-um-brandmauer-zur-afd-36133768.html
[5] Deutschlandfunk: Merz und die Grenzschließungen – https://www.deutschlandfunk.de/merz-cdu-grenzschliessungen-afd-100.html
[6] Tagesschau: Reaktionen auf Unionsantrag zu Migration – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/unionsantrag-migration-reaktionen-100.html
[7] ZDF: Liveblog Bundestag Migration Debatte – https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/liveblog-bundestag-migration-debatte-brandmauer-100.html
[8] Tagesschau: FAQ Abstimmung Bundestag Merz Antrag – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/faq-abstimmung-bundestag-merz-antrag-migrationspolitik-100.html
[9] BILD: Poletto-Show verboten weil AfD dafür war – https://www.bild.de/regional/hamburg/hamburg-regional-politik-und-wirtschaft/star-koechin-fassungslos-poletto-show-verboten-weil-afd-dafuer-war-84518562.bild.html
[10] MOPO: Keine Kochshow auf der Moorweide – https://www.mopo.de/hamburg/schlappe-fuer-palazzo-keine-kochshow-auf-der-moorweide/
[11] WZB: Die Brandmauer steht, zeigt aber Risse – https://wzb.eu/de/pressemitteilung/die-brandmauer-steht-zeigt-aber-risse
[12] Verfassungsblog: Aus dem Abseits in die Mitte der Demokratie – https://verfassungsblog.de/aus-dem-abseits-in-die-mitte-der-demokratie/
[13] WZB: Brandmauer unter Druck – https://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/brandmauer-unter-druck-wo-sie-steht-und-wo-sie-faellt
[14] Handelsblatt: Kommentar zu Guttenberg und Tauber – https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-guttenberg-und-tauber-brechen-ein-ueberfaelliges-afd-tabu/100163716.html
[15] DeZIM Institut: Wie beurteilen die Menschen in Deutschland die AfD? – https://www.dezim-institut.de/aktuelles/wie-beurteilen-die-menschen-in-deutschland-die-afd/
[16] Uni Kassel: Hält die Brandmauer? – https://www.uni-kassel.de/fb05/infothek/alle-meldungen/meldung/2025/03/21/haelt-die-brandmauer-eine-aktuelle-studie-von-wolfgang-schroeder-daniel-ziblatt-und-florian-bochert.html
[17] Ronzheimer Podcast: Muss sich die CDU für die AfD öffnen? Mit Peter Tauber – https://shows.acast.com/ronzheimer/episodes/muss-sich-die-cdu-fur-die-afd-offnen-mit-peter-tauber
[18] Tagesschau: AfD und Union – Brandmauer-Kritik von Günther – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/afd-union-brandmauer-kritik-guenther-100.html
