Merz und das „Problem im Stadtbild“: Warum diese Rhetorik gefährlich ist
„Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem.“
Friedrich Merz
Mit diesem Satz über „männliche irreguläre Migration“ hat Friedrich Merz Mitte Oktober eine Debatte losgetreten, die Deutschland spaltet. Der Bundeskanzler sprach in Potsdam von Rückführungen „in großem Umfang“ und legte am 20. Oktober noch nach: „Ich habe nichts zurückzunehmen. Fragen Sie mal Ihre Töchter, dann wissen Sie, was ich meine.“[1]
Das Problem bei Friedrich Merz ist zu oft, dass er erst redet und dann anfängt zu denken. Jedenfalls war es hier so.
Von Applaus bis Empörung
Die Spaltung zeigt sich in den Reaktionen. Jens Spahn springt Merz bei und konkretisiert: „Schauen Sie sich einen Hauptbahnhof an, in Duisburg, in Hamburg, in Frankfurt. Verwahrlosung, Drogendealer, junge Männer, meistens mit Migrationshintergrund“[2]. Markus Söder bezeichnet die Kritik als „linke Kampagne“ und „Wortklauberei“[3].
Auf der anderen Seite steht scharfe Kritik. Katharina Dröge (Grüne) fragt: „Wie sieht man denn dieses Problem, außer an der Hautfarbe der Menschen?“[4]. Selbst aus den eigenen Reihen kommt Widerspruch. Dennis Radtke vom CDU-Sozialflügel mahnt: „Als Kanzler trägt er eine besondere Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“[5]. Berlins Bürgermeister Kai Wegner (CDU) distanziert sich: „Das kann man nicht an der Nationalität festmachen“[6].
1.800 Menschen demonstrieren in Berlin unter dem Motto „Brandmauer hoch! Wir sind das Stadtbild“[7]. Luisa Neubauer organisiert eine feministische Demo: „Wir haben ein aufrichtiges Interesse daran, dass man sich mit unserer Sicherheit beschäftigt. Worauf wir gar keinen Bock haben, ist als Vorwand missbraucht zu werden für Aussagen, die unterm Strich einfach diskriminierend, rassistisch und umfassend verletzend waren“[8].
Die konstruierten Probleme
Ich will nicht unterstellen, dass Merz ein Rassist ist – wirklich nicht. Aber er ist dumm. Nicht weil er diese Aussage getätigt hat, er weiß ganz genau was er damit losgetreten hat, sondern weil er wohl wirklich denkt, auch nur einen Wähler von der AfD (zurück) zur CDU zu bewegen. Das Internet explodiert förmlich, und ich kann die Leute ein Stück weit verstehen. Wir fordern die Regierung dazu auf, endlich was zu machen, zu ändern, zu verbessern. Aber anstatt dies anzugehen – und Ergebnisse sind wohl der größte Hebel, um Wähler wieder zurück in die demokratische Mitte zu bewegen – werden weiter Probleme konstruiert.
Diese Stadtbild-Rede ist genau das: Ein konstruiertes Problem. Merz insinuiert das „kaputte“ Stadtbild in einem Atemzug mit der Migrationsdebatte. Es sind eben nicht nur die illegalen Migranten, die „die Töchter“ (Zitat Merz) angreifen oder überfallen. Er weiß das. Es ist aber genau das Bild, das er transportiert.
Eine belastete Metapher
Die „Stadtbild“-Metapher ist kein neutraler Begriff. Sie hat eine düstere Geschichte. Joseph Goebbels schrieb am 20. August 1941 in sein Tagebuch: „Es ist empörend und ein Skandal, daß in der Hauptstadt des Deutschen Reiches sich 70.000 Juden, zum größten Teil als Parasiten, herumtreiben können. Sie verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung. […] Wir müssen an dieses Problem ohne jede Sentimentalität herangehen.“
Goebbels stufte die Anwesenheit von Juden im deutschen „Straßenbild“ als Problem ein, das es laut seiner Propaganda „zu beseitigen“ galt. Die Parallelen zu heute sind erschreckend: Wieder wird von einem „Problem im Stadtbild“ gesprochen, wieder geht es um die Sichtbarkeit bestimmter Menschengruppen, wieder wird suggeriert, diese müssten „entfernt“ werden.
Auch in der jüngeren Vergangenheit tauchte die Stadtbild-Metapher auf. Vor etwa acht Jahren sagte Jörg Meuthen, ehemaliger AfD-Vorsitzender: „Man sehe in den Innenstädten noch vereinzelt Deutsche.“ Angela Merkel reagierte damals deutlich. Sie distanzierte sich von solchen Aussagen und bezeichnete die AfD als „menschenverachtend“. Merkel sagte, dass solche Stereotypen und „Kampfbegriffe“ dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schaden und nicht Teil demokratischer Diskurse sein sollten.
Was hinter der Strategie steckt
Robin Alexander analysiert in einem Podcast die politische Kalkulation. Merz wolle sich bewusst von Merkels Kurs absetzen: „Friedrich Merz hat sich bewusst für eine andere Strategie entschieden. Der will die Differenzen in der bürgerlichen Mitte scharf herausarbeiten. Der will gar nicht klingen wie ein Grüner oder ein Sozialdemokrat“[9].
Alexander erklärt die Doppelstrategie: Indem Merz polarisiert und sich sprachlich von Grünen und SPD abgrenzt, entziehe er der AfD das Argument vom einheitlichen „Parteienblock“. Die „Töchter“-Rhetorik sei ein „CDU-Klassiker“ – Law-and-Order-Themen würden „gerne weiblich verpackt, um so Kritik von links zu unterlaufen“[9].
Warum diese Strategie nicht funktioniert
Der Plan, die AfD durch Übernahme ihrer Themen zu schwächen, geht nicht auf. Die AfD nutzt Merz‘ Aussage für ihre Zwecke. Bernd Baumann postet Bilder betender Muslime vor dem Brandenburger Tor als vermeintliche Beispiele für das „Problem“[10]. Die Partei spottet über Merz und wirft ihm vor, nur Phrasen zu dreschen statt zu handeln[11].
Der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne warnt: „Es ist ganz wichtig für die Union und für andere demokratische Parteien, bei ihrer Sprache sehr genau darauf zu achten, keine Ressentiments, keinen Rassismus zu bedienen. Ansonsten würde die AfD nur weiter bestärkt“[12].
Die Strategie verfängt nicht, weil die AfD immer noch radikaler sein kann. Sie kann Merz‘ Rhetorik als halbherzig brandmarken und gleichzeitig seine Worte als Bestätigung ihrer eigenen Positionen nutzen. Der Kommunikationsberater Johannes Hillje attestiert Merz ein „Glaubwürdigkeitsproblem“: Er identifiziere die AfD als „Hauptgegner“, nähere sich aber rhetorisch an sie an[13].
Was die Wissenschaft sagt
Die empirischen Daten widerlegen Merz‘ These vom migrationsbedingten „Problem im Stadtbild“. Eine brandaktuelle Studie des ifo-Instituts vom Februar 2025 ist eindeutig: „Im Zeitraum 2018-2023 lässt sich kein Zusammenhang zwischen einer Veränderung im regionalen Ausländeranteil und der lokalen Kriminalitätsrate nachweisen. (Flucht-)Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität im Aufnahmeland“[14].
Die Langzeitentwicklung spricht eine klare Sprache. Zwischen 2005 und 2024 stieg die Zahl der Ausländer in Deutschland um über 70 Prozent. Im selben Zeitraum sank die Kriminalitätsrate um 14 Prozent[15].
Ausländer sind zwar in der Kriminalstatistik überrepräsentiert – sie stellen 35,4 Prozent der Tatverdächtigen bei einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent[16]. Doch diese Zahlen sind massiv verzerrt. Der Kriminologe Christian Walburg erklärt: „Zugewanderte sind überproportional häufig männlich, jung und haben im Durchschnitt weniger Bildung und Einkommen. Ganz unabhängig vom Migrationshintergrund sind dies demografische und sozioökonomische Risikofaktoren für Kriminalität“[17].
32,8 Prozent der Asylerstantragstellenden 2024 waren Männer zwischen 16 und 29 Jahren. In der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt dieser Anteil bei nur 7,2 Prozent[18]. Die Statistik erfasst zudem alle ausländischen Tatverdächtigen – auch solche, die gar nicht in Deutschland leben, sondern zur Straftatenbegehung einreisen[19].
Ein viel komplexeres Problem
Es gibt auch deutsche Straftäter. Es gibt auch Übergriffe auf Männer. Dazu gibt es organisierte Kriminalität, Drogen, kaputte Straßen, leere Geschäfte und vieles andere in unserem Stadtbild, was korrigiert werden müsste. Merz sagte, Innenminister Dobrindt geht das Problem an. Alle von mir genannten? Die Liste lässt sich weiterführen. Nein, Merz zielte auf die Migration ab in seiner Rede.
Man könnte zynisch fragen, wie viele Migranten denn abgeschoben werden müssen, damit das Stadtbild wieder passt.
Das Stadtbild wird, selbst wenn er die illegale Migration vollständig eindämmen kann, nicht besser. Die Drogendealer am Hauptbahnhof verschwinden nicht. Die verwahrlosten Ecken werden nicht sauber. Die leerstehenden Geschäfte öffnen nicht wieder. Und die Wähler kommen dann noch lange nicht zur CDU zurück.
Merz‘ Verweis auf „Töchter“ suggeriert, Frauen würden primär durch Migranten im öffentlichen Raum bedroht. Die Datenlage zeigt ein anderes Bild. Eine BKA-Studie von 2022 belegt: Über die Hälfte der Frauen meidet nachts bestimmte Orte aus Angst vor Kriminalität – unabhängig von Migration[20].
Paradoxerweise zeigt dieselbe Studie: Personen mit Migrationshintergrund schätzen das Risiko, Opfer von Kriminalität zu werden, höher ein als Menschen ohne Migrationshintergrund[21]. Frauen türkischer Herkunft sind häufiger und schwerer von Gewalt betroffen als deutsche Frauen – meist durch Partner und Familienangehörige, nicht durch Fremde im öffentlichen Raum[22].
Was bleibt
Merz wiederholt seine Aussage, macht sie dadurch aber nicht wahrer. Er vermengt reale Teilprobleme mit einer pauschalen, wissenschaftlich nicht gedeckten Kausalbehauptung. Dennis Radtke trifft einen wichtigen Punkt: „Probleme wie Drogensucht lassen sich nicht einfach abschieben. Viele der bestehenden Probleme würden dadurch nicht gelöst“[23].
Die Schriftstellerin Rameza Monir fragt öffentlich: „Störe ich Sie auch, Herr Merz? Ich laufe schließlich mit einem Kopftuch herum. Bin ich Teil des ‚Problems im Stadtbild‘?“[24]. Diese Frage zeigt die Gefahr von Merz‘ Rhetorik. Er stigmatisiert Menschen aufgrund sichtbarer Merkmale. Er schürt Ängste statt Probleme zu lösen. Und er normalisiert eine Sprache, die Menschen zu Problemen erklärt.
Die AfD wird dadurch nicht schwächer. Im Gegenteil: Merz legitimiert ihre Narrative und liefert ihr gleichzeitig Munition für den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit. Wer AfD-Wähler zurückholen will, braucht Ergebnisse, nicht Rhetorik. Wer das Stadtbild verbessern will, muss alle Probleme angehen – von der maroden Infrastruktur über die Drogenkriminalität bis zur sozialen Ungleichheit.
Wir brauchen keine reißerischen Reden mehr, sondern Lösungen. Davon sehe ich bei Merz bisher wenig.
Gewinn erfährt nur eine Seite von dieser Aussage. Das ist die AfD, welche wohl schon anfängt, „Stadtbild“ auf die Wahlplakate für 2029 zu drucken.
Quellen
[1] MDR: Merz-Migration-Stadtbild-Kritik – https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/merz-migration-stadtbild-kritik-100.html
[2] Deutschlandfunk: Friedrich Merz Stadtbild Migration Diskussion – https://www.deutschlandfunk.de/friedrich-merz-stadtbild-migration-diskussion-100.html
[3] Tagesspiegel: Nach Stadtbild-Kritik des CDU-Sozialflügels – https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-stadtbild-kritik-des-cdu-sozialflugels-soder-kritisiert-linke-kampagne-gegen-merz–auch-dobrindt-verteidigt-den-kanzler-14615285.html
[4] Deutschlandfunk: Friedrich Merz Stadtbild Migration Diskussion – https://www.deutschlandfunk.de/friedrich-merz-stadtbild-migration-diskussion-100.html
[5] Tagesschau: CDU-Brandmauer-Debatte – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/cdu-brandmauer-debatte-100.html
[6] n-tv: Berlins Bürgermeister distanziert sich von Merz – https://www.n-tv.de/politik/Nach-Stadtbild-Aussage-Berlins-Buergermeister-distanziert-sich-von-Merz-article26102209.html
[7] ZDFheute: Merz-Stadtbild-Migration – https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/merz-stadtbild-migration-100.html
[8] Tagesspiegel: Luisa Neubauer ruft zu feministischer Demo – https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-ausserungen-von-friedrich-merz-luisa-neubauer-ruft-zu-feministischer-demo-vor-cdu-zentrale-in-berlin-auf-14617181.html
[9] BILD: Welt-Vize Robin Alexander über Stadtbild-Satz – https://www.bild.de/politik/ausland-und-internationales/welt-vize-robin-alexander-ueber-stadtbild-satz-merz-will-nicht-klingen-wie-ein-gruener-68f75d4359e2e09750706fac
[10] nd-aktuell: Wer stört hier eigentlich wen im Stadtbild – https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194820.merzr-stadtbild-aeusserung-wer-stoert-hier-eigentlich-wen-im-stadtbild-herr-merz.html
[11] AfD: Stephan Brandner – Stadtbildprobleme lösen statt Phrasen dreschen – https://www.afd.de/stephan-brandner-stadtbildprobleme-loesen-statt-phrasen-dreschen/
[12] WDR: Merz-Äußerungen Stadtbild Töchter – https://www1.wdr.de/nachrichten/merz-aeusserungen-stadtbild-toechter-100.html
[13] MDR: Merz-Migration-Stadtbild-Kritik – https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/merz-migration-stadtbild-kritik-100.html
[14] ifo Institut: Steigert Migration die Kriminalität – https://www.ifo.de/DocDL/sd-2025-digital-03-adema-alipour-migration-kriminalitaet.pdf
[15] Mediendienst Integration: Migration und Kriminalität – https://mediendienst-integration.de/desintegration/kriminalitaet.html
[16] Mediendienst Integration: Migration und Kriminalität – https://mediendienst-integration.de/artikel/migration-und-kriminalitaet.html
[17] Bundeszentrale für politische Bildung: Migration und Kriminalität – https://www.bpb.de/themen/innere-sicherheit/dossier-innere-sicherheit/301624/migration-und-kriminalitaet/
[18] Bundeszentrale für politische Bildung: Migration und Kriminalität – https://www.bpb.de/themen/innere-sicherheit/dossier-innere-sicherheit/301624/migration-und-kriminalitaet/
[19] Tagesschau Faktenfinder: Kriminalität falsche Berechnungen – https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/kriminalitaet-falsche-berechnungen-100.html
[20] BMI: Sicherheit und Kriminalität in Deutschland – https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2022/11/sicherheit-kriminalitaet-in-deutschland.html
[21] Tagesschau: Merz-Stadtbild-Sicherheit – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/merz-stadtbild-sicherheit-100.html
[22] BMFSFJ: Gesundheit, Gewalt, Migration – Kurzfassung der Studie – https://www.bmbfsfj.bund.de/resource/blob/93962/47167b8687b3eefe472134388c534198/gesundheit-gewalt-migration-kurzfassung-studie-data.pdf
[23] BR: Stadtbild – CDU-Sozialflügel-Chef fordert anderen Stil von Merz – https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/stadtbild-cdu-sozialfluegel-chef-fordert-anderen-stil-von-merz,V0EQBJP
[24] nd-aktuell: Wer stört hier eigentlich wen im Stadtbild – https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194820.merzr-stadtbild-aeusserung-wer-stoert-hier-eigentlich-wen-im-stadtbild-herr-merz.html

