Wut sells – Warum Polarisierung der neue „Sex sells“ der digitalen Ära ist

In der aktuellen Folge 211 des Lanz & Precht Podcasts (18. September 2025) brachte Markus Lanz eine Erkenntnis des amerikanischen Professors Scott Galloway auf den Punkt:

„Scott Galloway sagt, diese großen Digitalkonzerne, die dieses Geschäft mit der Aufmerksamkeit betreiben […] wir dachten ja immer Sex sells, ja, Sex lässt sich gut verkaufen. Aber diese schlauen Leute, die diese Algorithmen bauen, haben herausgefunden, dass es etwas sehr viel Besseres gibt, nämlich Wut.“1

Diese Beobachtung hat mich zum Nachdenken gebracht. Tatsächlich scheint die traditionelle Marketingweisheit „Sex sells“ in der digitalen Ära einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben: „Wut sells“. Was früher durch sexuelle Anziehung verkauft wurde, wird heute durch Empörung, Polarisierung und emotionale Aufregung vermarktet. Diese Entwicklung zeigt sich besonders deutlich in den Geschäftsmodellen großer IT-Konzerne und der Kommunikationsstrategie populistischer Parteien wie der AfD.

Das Geschäft mit der Wut

Soziale Medien haben eine einfache Währung: Engagement. Je mehr Nutzer klicken, kommentieren, teilen und interagieren, desto wertvoller werden sie für die Plattformbetreiber. Studien belegen eindeutig, dass negative Emotionen – insbesondere Wut – zu deutlich höherem Nutzerengagement führen als positive Inhalte.2 Ein wütender Post wird häufiger geteilt, kommentiert und diskutiert als ein fröhlicher oder neutraler Beitrag.

Die Algorithmen der großen Social-Media-Plattformen haben diesen Mechanismus perfektioniert. Facebook, Twitter, TikTok und andere bevorzugen systematisch Inhalte, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Der Grund ist simpel: Wütende Nutzer bleiben länger online, interagieren mehr und generieren dadurch höhere Werbeeinnahmen. Was als „Rage Bait“ bezeichnet wird – also das gezielte Schüren von Empörung für Klicks – ist zum Standard geworden.

Die Verstärkungsschleife der Empörung

Besonders problematisch ist der selbstverstärkende Kreislauf: Wenn wütende Inhalte mehr Sichtbarkeit erhalten, produzieren Content-Ersteller immer extremere und polarisierende Botschaften, um die Aufmerksamkeit der Algorithmen zu gewinnen. Dies führt zu einer Art „Empörungsspirale“, in der nur noch die lautesten und provokantesten Stimmen gehört werden.

Die AfD als Meister der Polarisierung

Die Alternative für Deutschland hat dieses Prinzip zur Perfektion gebracht und zeigt beispielhaft, wie „Wut sells“ in der politischen Kommunikation funktioniert. Entscheidend dabei ist: Der AfD ist das konkrete Thema völlig egal – Hauptsache, es polarisiert und erzeugt Empörung.

Themenwechsel als Strategie

Die Geschichte der AfD liest sich wie ein Lehrbuch für opportunistische Themenwahl:

Eurokrise (2013-2015): Die Partei startete als EU-kritische Bewegung und kritisierte Rettungsschirme und den Euro

Migration (2015-heute): Komplette Neuausrichtung auf Migrationskritik und „Überfremdungsängste“ – bis heute der wichtigste Dauerbrenner der Partei

Corona-Pandemie (2020-2022): Von Impfkritik über „Querdenker“-Rhetorik bis zur Diffamierung von Schutzmaßnahmen

Klimawandel (2019-heute): Leugnung oder Relativierung des menschengemachten Klimawandels, Kampf gegen „Klimadiktatur“

Ukraine-Krieg (2022-heute): Kritik an Waffenlieferungen und Forderung nach sofortigen „Friedensverhandlungen“

Genderdebatten: Von Kritik an „Gendersprache“ bis zur Diffamierung von Vielfalt in der Sexualaufklärung

Energiepreise und Inflation: Nutzung wirtschaftlicher Sorgen für systemkritische Agitation

Bei jedem Themenwechsel behielt die AfD ihre Kernstrategie bei: extreme Zuspitzung, emotionale Aufladung und die Inszenierung als „verfolgte Wahrheitssprecher“ gegen das „System“.

Kommunikationsstrategie der kalkulierten Provokation

Die AfD nutzt bewusst vier zentrale Elemente ihrer „Propaganda 4.0“3:

  • Delegitimierung etablierter Medien als „Lügenpresse“ oder „Systemmedien“
  • Aufbau eigener Medienkanäle für alternative Narrative
  • Schaffung einer kollektiven Identität als „wahres Volk“ gegen „die da oben“
  • Extreme Polarisierung durch konfrontative „Wir gegen die anderen“-Rhetorik

Dabei setzt die Partei systematisch auf sprachliche Tabubrüche, historisch belastete Begriffe und emotionalisierende Falschinformationen. Ziel ist nicht der sachliche Diskurs, sondern die Delegitimierung des politischen Gegners und die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren.

Die dunkle Seite des digitalen Kapitalismus

Das Geschäftsmodell der großen Tech-Konzerne basiert fundamental auf der Monetarisierung menschlicher Aufmerksamkeit. Wut und Empörung sind dabei besonders wertvolle Rohstoffe, da sie zu längerer Verweildauer und höherer Interaktionsrate führen. Studien zeigen, dass emotional aufgeladene Inhalte – insbesondere solche, die Ärger oder Empörung auslösen – algorithmisch bevorzugt werden.4

Die Profiteure der Polarisierung

Die Gewinner dieses Systems sind klar identifizierbar:

  • Tech-Plattformen profitieren von höherem Engagement und längeren Nutzungszeiten
  • Populistische Akteure erhalten kostenlose Reichweite für ihre polarisierenden Botschaften
  • Desinformations-Netzwerke können ihre Narrative viral verbreiten
  • Extremistische Gruppen finden neue Wege zur Radikalisierung und Rekrutierung

Die Verlierer sind die Demokratie, der gesellschaftliche Zusammenhalt und letztendlich die Nutzer selbst, die in immer extremere Filterblasen gedrängt werden.

Es gibt Hoffnung: „Yes We Can“ als Gegenbeweis

Die Geschichte sozialer Medien begann jedoch mit einem völlig anderen Beispiel: Barack Obamas „Yes We Can“-Kampagne von 2008. Obama bewies, dass Social Media auch für positive, inklusive und hoffnungsvolle Politik genutzt werden kann. Seine Kampagne setzte auf Empowerment statt Empörung, auf Gemeinschaft statt Spaltung, auf Hoffnung statt Hass.

Die Obama-Formel für positives Social Media

Obamas Erfolg beruhte auf vier Grundprinzipien:

  • Authentizität: Echte, persönliche Verbindung zu den Menschen
  • Partizipation: Nutzer wurden zu aktiven Teilnehmern, nicht passiven Konsumenten
  • Positive Vision: „Change we can believe in“ vermittelte Optimismus und Gestaltungswillen
  • Community Building: Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls als „Team Obama“

Mit 5 Millionen Unterstützern auf 15 verschiedenen Plattformen, 2,5 Millionen Facebook-Fans und 50 Millionen YouTube-Views bewies Obama, dass positive Emotionen viral gehen können.5

Moderne Beispiele für hoffnungsvolle Social Media-Nutzung

Auch heute zeigen verschiedene Bewegungen, dass Social Media mehr als eine „Wutmaschine“ sein kann:

  • #MeToo: Empowerment von Betroffenen und gesellschaftlicher Wandel durch geteilte Erfahrungen
  • #BlackLivesMatter: Globale Solidarität und Bewusstseinsschaffung für Rassismus-Probleme
  • #FridaysForFuture: Mobilisierung einer ganzen Generation für Klimaschutz
  • #BodyPositivity: Förderung von Selbstakzeptanz und Vielfalt entgegen unrealistischer Schönheitsideale

Diese Bewegungen zeigen, dass soziale Medien nach wie vor kraftvolle Werkzeuge für positiven gesellschaftlichen Wandel sein können.

Ist eine Kehrtwende möglich?

Die Frage ist nicht, ob Social Media grundsätzlich „böse“ oder „gut“ sind – sie sind Werkzeuge, die je nach Nutzung konstruktiv oder destruktiv wirken können. Entscheidend ist, wie wir als Gesellschaft mit diesen Technologien umgehen.

Wege aus der Wut-Spirale

Mehrere Ansätze könnten helfen, das Ruder herumzureißen:

  • Algorithmus-Transparenz: Plattformen müssen offenlegen, wie ihre Empfehlungssysteme funktionieren
  • Demokratischer Populismus: Positive Emotionen wie Hoffnung und Solidarität strategisch nutzen
  • Digital Literacy: Nutzer für Manipulationsmechanismen sensibilisieren
  • Alternative Plattformen: Förderung von Netzwerken, die nicht auf Engagement-Maximierung setzen
  • Regulierung: Gesetzliche Rahmenbedingungen für verantwortungsvolle Algorithmus-Gestaltung

Fazit: Die Zukunft liegt in unseren Händen

„Wut sells“ ist kein Naturgesetz, sondern ein Geschäftsmodell. Wie jedes Geschäftsmodell kann es verändert werden – durch bewusste Entscheidungen der Nutzer, regulatorische Eingriffe und alternative Ansätze der Plattform-Betreiber.

Die AfD hat gezeigt, wie effektiv die systematische Instrumentalisierung von Wut und Polarisierung sein kann. Doch Obama hat bewiesen, dass Social Media auch für Hoffnung, Inklusion und positive Veränderung genutzt werden können. Die Entscheidung, welchen Weg unsere digitale Zukunft nimmt, liegt bei uns allen.

Die Frage ist nicht, ob wir die Macht haben, das System zu ändern – sondern ob wir den Mut aufbringen, es zu tun. „Yes we can“ gilt auch heute noch – wir müssen nur den Willen dazu entwickeln, positive Emotionen genauso strategisch zu nutzen wie populistische Kräfte ihre Empörung instrumentalisieren.

In einer Zeit, in der Wut zum wertvollsten digitalen Rohstoff geworden ist, ist Hoffnung vielleicht der radikalste Akt des Widerstands.


Quellen

Weiterführende Links:

  • The Social Dilemma (Netflix-Dokumentation über Social Media Algorithmen)
  • Center for Humane Technology: https://www.humanetech.com
  • MIT Media Lab Research on Social Media and Polarization
  • Bundeszentrale für politische Bildung – Dossier zu Populismus: https://www.bpb.de

Footnotes

  1. Lanz & Precht Podcast, Folge 211, 18. September 2025 – https://www.zdf.de/gesellschaft/lanz-und-precht 
  2. Vgl. u.a. Berger, J., & Milkman, K. L. (2012). „What Makes Online Content Viral?“ Journal of Marketing Research, 49(2), 192-205; Brady, W. J., et al. (2017). „Emotion shapes the diffusion of moralized content in social networks.“ PNAS, 114(28), 7313-7318 
  3. Begriff aus der Forschung zu digitaler politischer Kommunikation, siehe z.B. Bundesamt für Verfassungsschutz (2024). „Rechtsextremismus: Symbole, Zeichen und verbotene Organisationen“ – https://www.verfassungsschutz.de
  4. Vgl. Bail, C. A., et al. (2018). „Exposure to opposing views on social media can increase political polarization.“ PNAS, 115(37), 9216-9221; Mosleh, M., et al. (2021). „Shared partisanship dramatically increases social tie formation in a Twitter field experiment.“ PNAS, 118(7) 
  5. Carr, D., & Stephens-Davidowitz, S. (2009). „Obama’s Success May Hinge on Social Media Strategy“ – New York Times; Lutz, A. (2009). „Social Networking: Obama Used it Best.“ MediaPost 

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