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Verantwortung in der Demokratie – warum wir nicht nur zuschauen dürfen

Am 3. Oktober 2025, zum Tag der Deutschen Einheit, hat Friedrich Merz eine bemerkenswerte Rede gehalten. Er rief die Deutschen explizit zu mehr Mitwirkung und gesellschaftlicher Verantwortung auf. „Die deutsche Einheit sei kein abgeschlossener Prozess, sondern ein fortlaufender Auftrag, der heute neue Formen des Zusammenhalts erfordere. Demokratie und Zusammenhalt brauchen gesamtgesellschaftliches Engagement.“[1]

Das ist ein interessanter Tonwechsel. Merz, der sonst eher mit aggressiver Rhetorik auffällt, appelliert hier an das gemeinsame Miteinander. Er sagte: „Trauen wir uns Veränderungen zu. Lassen wir uns nicht von Angst lähmen. Wagen wir einen neuen Aufbruch…. Wir, das sind alle Deutschen. Wir sind als Bürgerinnen und Bürger gleich … gleich in der Verantwortung für dieses Land, jeder an seiner Stelle.“[1]

Und weißt du was? Er hat damit nicht ganz unrecht. Die Frage ist nur: Wie will er das umsetzen? Mit Bitten und Überreden? Oder wird er bestimmend, wenn die Menschen nicht so reagieren, wie er sich das vorstellt? Das bleibt abzuwarten.

Vertrauen am Boden

Denn die Zahlen sind brutal. Die Ampel ist Geschichte, das Vertrauen am Boden. Nur noch 19 Prozent der Deutschen sprechen der Bundesregierung großes Vertrauen aus, 64 Prozent sind unzufrieden mit der Regierungsarbeit.[2][3] Die Zahlen sind verheerend.

Und ja, da ist was dran. Die Rente wackelt, die Infrastruktur bröckelt, die Wirtschaft verliert den Anschluss. Die Politik muss liefern. Keine Frage. Aber – und das ist der Punkt, den viele nicht hören wollen – die Politik kann nicht alles alleine richten.

Alles auf die Politik schieben

Wir Deutschen haben uns über Jahrzehnte eine Vollkaskomentalität angewöhnt. Jede gesellschaftliche Gruppe fordert ständig mehr vom Staat. Mehr Geld für Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Polizei. Immer mehr, immer vom Staat.[4][5]

Diese Erwartungshaltung überfordert die Politik systematisch. Sie führt zu einer gefährlichen Illusion: dass der Staat alle Probleme lösen kann und muss. Das ist Quatsch.

Marcel Fratzscher vom DIW Berlin hat es auf den Punkt gebracht: „Die Politik kann die Probleme nicht allein lösen. Erfolgreiche Transformation erfordert Eigenverantwortung aller Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“. Das Problem liegt nicht nur in der Politik, sondern in einer „unglaublichen Depression“, die „in unserem Kopf, in unserer Mentalität“ begründet ist.[6]

Bürgerpflichten – kennt die noch jemand?

Jeder kennt seine Rechte. Jeder kann sie aufzählen. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, all das. Aber Bürgerpflichten? Da wird es schon dünner.

Dabei gehören die dazu. Steuern zahlen, klar. Schulpflicht auch. Aber es geht weiter: Nothilfe bei Katastrophen, Zeugenpflicht vor Gericht.[7][8] Und vor allem – und das ist das Wichtige – die Verantwortung für das Gemeinwesen. Die aktive Teilnahme an der Demokratie.

Merz hat in seiner Rede genau das angesprochen: „Der Kanzler rief dazu auf, Verantwortung nicht weiterzuschieben, sondern sie im Alltag zu übernehmen – durch offenen Dialog, Respekt gegenüber anderen Meinungen und aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Miteinander.“[1]

Wir haben eine weltweit einzigartige Bildungslandschaft der politischen Bildung in Deutschland.[9] Nutzt sie nur kaum jemand richtig.

Der Staat als Ersatzvater

Die deutsche Geschichte hat uns starke staatliche Strukturen beschert, die tief ins Leben eingreifen. Das Ergebnis: Viele Deutsche betrachten den Staat als Ersatzvater. Sicherheit über Freiheit.[4]

Das muss sich ändern. Und es ändert sich teilweise auch schon. Beim Fleischkonsum zum Beispiel. Ohne staatliche Verbote ist der Konsum von 2018 bis 2020 um knapp vier Kilogramm pro Person gesunken. Speziell bei der jüngeren Generation ist der bewusste Verzicht ausgeprägt.[10]

Das ist gelebte Eigenverantwortung. Davon brauchen wir mehr.

Die Rentendebatte – ein Realitätscheck

Die Debatte ums Renteneintrittsalter zeigt, wie schwer wir uns mit unbequemen Wahrheiten tun. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche hat eine Anhebung auf 70 Jahre gefordert: „Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen“.[11][12]

Die Fakten sprechen für sich: Nur etwa 40 Prozent der neuen Ruheständler 2024 haben bis zum gesetzlichen Rentenalter gearbeitet. Fast ein Viertel ging mit der abschlagsfreien Rente nach 45 Arbeitsjahren. Das tatsächliche Durchschnittsalter beim Renteneintritt liegt bei 64,7 Jahren.[13][14]

Die demografischen Fakten sind klar. Die Lebenserwartung steigt. Aber ein Großteil der Gesellschaft sträubt sich, die eigene Komfortzone zu verlassen. Das ist das Problem.

Aktivierung statt Rundumversorgung

Das Konzept des „Aktivierenden Staates“ bietet einen Ausweg. Bürger sollen nicht nur Empfänger staatlicher Leistungen sein, sondern aktiv mitwirken.[15]

Eine repräsentative Bürgerbefragung in Niedersachsen zeigte bereits 1997: Die Bereitschaft zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung ist vorhanden. Sie kann für die Staatsmodernisierung aktiviert werden.[15]

Das Potenzial ist da. Wir müssen es nur nutzen.

Protest allein reicht nicht

2024 war ein Rekordjahr für Demonstrationen. Fast jeder Fünfte war mindestens einmal auf der Straße – ein neuer Höchststand. Gleichzeitig zieht sich insbesondere die obere Mittelschicht aus anderen Formen politischen Engagements zurück.[16][17]

Protest ist wichtig. Aber er reicht nicht. Bürgerbeteiligung muss konstruktive Formen annehmen. Sie erweitert Expertenwissen und bringt neue Perspektiven ein. Gefragt ist die Einbindung derer, die selten sprechen – nicht nur die lauten Stimmen der Protestkultur.[18]

Merz‘ Vision – aber wie?

Merz hat in seiner Rede eine klare Vision formuliert: „Was wollen wir für ein Land sein?… Wir wollen ein freiheitliches demokratisches Land sein … Wir wollen ein Land sein, in dem wir in einem dauernden Gespräch miteinander unseren Weg finden … Erst aus diesem Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst, in dem alles zur Sprache kommt und alles gehört wird, erwächst unsere gemeinsame Zukunft. Das ist die Wirklichkeit einer lebendigen Demokratie!“[1]

Schöne Worte. Aber die entscheidende Frage bleibt: Wie will er das konkret umsetzen? Wie soll dieses „dauernde Gespräch“ aussehen? Und was passiert, wenn Teile der Gesellschaft nicht mitmachen wollen?

Merz forderte: „Lassen Sie uns eine gemeinsame Kraftanstrengung unternehmen für eine neue Einheit in unserem Land.“[19][20] Er rief dazu auf, „Spaltungen zu überwinden“ und mit Zuversicht eine „neue Einheit“ zu gestalten.

Das klingt gut. Aber es braucht mehr als Appelle.

Was jetzt zu tun ist

Politik muss liefern. Sie muss sichtbare Probleme lösen: die Wohnungsnot, die Inflation, die Alterssicherung. Sie muss die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung wiederherstellen. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle hat es treffend gesagt: „Das Zu-Spät-Kommen der Deutschen Bahn ist auch ein Demokratieproblem“.[21]

Aber – und das ist entscheidend – die Gesellschaft darf nicht länger passiv zuschauen. Wir alle können was. Wir alle müssen uns mehr anstrengen.

Das bedeutet konkret:

  • Akzeptanz notwendiger Reformen, auch wenn sie unbequem sind
  • Aktive Beteiligung an politischen Prozessen jenseits von Wahlen
  • Bereitschaft zur Eigenverantwortung, wo staatliche Hilfe nicht nötig ist
  • Engagement in lokalen Gemeinschaften und Organisationen

Raus aus der Komfortzone

Persönliches Wachstum findet nicht im Stillstand statt – sondern in der Bewegung.[22] Das gilt für uns alle. Das gilt für die ganze Gesellschaft.

Ohne die Bereitschaft, liebgewonnene Gewohnheiten zu hinterfragen, werden wir unsere Herausforderungen nicht meistern. Das Verlassen der Komfortzone ist entscheidend für Wachstum.[22]

Merz hat es formuliert: „Wagen wir einen neuen Aufbruch. Erinnern wir uns an die Zuversicht, mit der unsere ostdeutschen Landsleute vor 35 Jahren ihren Aufbruch wagten. Positiver Geist könne Kraft freisetzen, Pessimismus und Larmoyanz vergeude Energie. Es ist unser Land.“[20]

Die Entscheidung liegt bei uns

Die deutsche Gesellschaft steht vor einer fundamentalen Entscheidung. Entweder wir klammern uns weiter an die Illusion staatlicher Allmacht und nehmen den Niedergang in Kauf. Oder wir besinnen uns auf das, was uns stark gemacht hat: Eigeninitiative, Verantwortungsgefühl, die Bereitschaft gemeinsam zu arbeiten.

Politik soll liefern. Muss liefern. Aber sie ist kein Lieferdienst für Wohlstand und Weltverbesserung. Wir sitzen zu oft da, als hätten wir beim Staat eine Sozialreform, eine stabile Konjunktur und gleich noch eine Pizza bestellt – „bitte heiß und innerhalb von 30 Minuten“. Und wenn es 35 dauert, meckern wir über die Regierung. So funktioniert das nicht. Wir sollten dem Boten zumindest bis zur Grundstücksgrenze entgegenkommen – sprich: selbst Verantwortung übernehmen, statt auf pünktliche Lieferung zu warten. Wir sind mündig. Wir können auf eigenen Beinen stehen. Und ja – wir können unser Land besser machen.

Merz hat recht mit seinem Appell. Nur: Appelle allein verändern gar nichts. Die Frage ist, ob er selbst bereit ist, den Menschen auch dann zuzuhören, wenn sie anderer Meinung sind – oder ob „Dialog“ wieder nur heißt, dass am Ende alle nicken sollen, wenn er spricht.
Wir brauchen keine weiteren Sonntagsreden über Verantwortung. Wir brauchen Menschen, die sie wirklich übernehmen. Nicht erst, wenn das Land schon brennt, sondern im Alltag – da, wo Demokratie tatsächlich lebt.
Wer immer nur auf die Politik zeigt, steht irgendwann selbst im Weg. Es reicht nicht, den Boten zu beschimpfen, weil die Pizza kalt ist. Man muss schon selbst den Ofen anwerfen.

Es ist Zeit, dass wir alle aufstehen. Politik und Gesellschaft. Gemeinsam.


Quellen

[1] Bundesregierung: Bundeskanzler Merz zum Tag der Deutschen Einheit
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundeskanzler-merz-zum-tag-der-deutschen-einheit-2387076

[2] Statista: Vertrauen in die Regierung
https://de.statista.com/infografik/33806/befragte-die-ihrer-jeweiligen-nationalen-regierung-vertrauen/

[3] Körber-Stiftung: Umfrage Demokratie in der Krise 2025
https://koerber-stiftung.de/projekte/demokratie-in-der-krise/umfrage-2025/

[4] Ihr Fachmakler: Angst vor Freiheit und Eigenverantwortung
https://www.ihr-fachmakler.de/haben-die-deutschen-angst-vor-freiheit-und-eigenverantwortung/

[5] Kommunal.de: Vollkasko-Mentalität
https://kommunal.de/vollkasko-mentalitaet-talkshow

[6] DIW: Warum sich Deutschland nicht verändern will
https://www.diw.de/de/diw_01.c.929159.de/nachrichten/warum_sich_deutschland_nicht_veraendern_will.html

[7] Wikipedia: Bürgerpflicht
https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerpflicht

[8] T-Online: Bürgerrecht und Bürgerpflicht
https://www.t-online.de/finanzen/ratgeber/steuern-recht/rechtstipps/id_68507250/buergerrecht-und-buergerpflicht-das-sollten-sie-wissen.html

[9] ADB Fachzeitschrift: Mehr politische Bildung und aktive Verantwortung
https://fachzeitschrift.adb.de/mehr-politische-bildung-und-aktive-verantwortung-der-buergerinnen-in-der-repraesentativen-demokratie/

[10] Ohfamoos: Demokratie oder Eigeninitiative
https://www.ohfamoos.com/2022/04/demokratie-oder-eigeninitiative/

[11] ZDF: Rente Reiche Debatte
https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/rente-reiche-debatte-bundesregierung-renteneintrittsalter-rentenreform-100.html

[12] Vorwärts: Rente mit 70
https://www.vorwaerts.de/inland/rente-mit-70-darum-geht-es-der-debatte-um-laengere-lebensarbeitszeit

[13] Focus: Renten-Realität in Deutschland
https://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/rente-oder-weiterarbeiten-so-sieht-renten-realitaet-in-deutschland-aus_67cb3590-7994-46c8-b691-44fdde5332c2.html

[14] Tagesschau: Gesetzliches Rentenalter
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/gesetzliches-rentenalter-100.html

[15] BpB: Bürgerengagement und aktivierender Staat
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/538940/buergerengagement-und-aktivierender-staat-ergebnisse-einer-buergerbefragung-zur-staatsmodernisierung-in-niedersachsen/

[16] Weizenbaum-Institut: Protestjahr 2024
https://www.weizenbaum-institut.de/news/detail/protestjahr-2024-mehr-demonstrationen-weniger-engagement-der-bessergestellten/

[17] Berlin.de: Politische Bildung
https://www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/blog/artikel.1551728.php

[18] Beteiligungsportal Baden-Württemberg: Was ist Bürgerbeteiligung
https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/de/informieren/was-ist-buergerbeteiligung

[19] Zeit: Tag der Deutschen Einheit – Friedrich Merz Rede
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-10/tag-der-deutschen-einheit-friedrich-merz-rede

[20] Berliner Zeitung: Kanzler Merz fordert neue Einheit in Deutschland
https://www.berliner-zeitung.de/news/kanzler-merz-fordert-neue-einheit-in-deutschland-35-jahre-nach-vereinigung-li.2360525

[21] Volkswagenstiftung: Können wir nicht vorhersagen, ob die Demokratie hält
https://www.volkswagenstiftung.de/de/news/interview/wir-koennen-nicht-vorhersagen-ob-die-demokratie-haelt

[22] Arwa: Komfortzone verlassen
https://arwa.de/de/blog/komfortzone-verlassen

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