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Modernisierungsagenda: Zu wenig, zu langsam, zu deutsch

Am 1. Oktober 2025 hat die Bundesregierung ihre „Modernisierungsagenda“ beschlossen. 80 Einzelmaßnahmen[1]. 25% weniger Bürokratie bis 2029[2]. Unternehmensgründung in 24 Stunden[3].

Ich gebe zu: Die Ansätze gefallen mir. Weniger politisches Blabla, mehr unternehmerische Sicht. Konkrete Zeitangaben hinter den Punkten. Das ist besser als früher.

Aber ich habe massive Zweifel, ob das so kommt.

Die Bürokratiemeldestelle – Ein Treppenwitz

Das Highlight der Agenda? Eine Bürokratiemeldestelle[4]. Ernsthaft. Bürger sollen dort melden, wo Bürokratie nervt. Damit man dann darüber diskutieren kann, ob man sie vielleicht irgendwann mal abbaut.

Ich stelle mir gerade vor, wie jemand ein Fax an die Meldestelle schickt. „Betreff: Zu viel Bürokratie. Anlage: Dieser Faxvorgang.“

Das ist Peak Deutschland. Wir schaffen keine Probleme ab. Wir schaffen neue Stellen, die Probleme dokumentieren.

12 Jahre nach „Neuland“

Merkel wollte schon Digitalisierung. 2013 sagte sie: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Das war vor 12 Jahren. Scholz wollte auch Digitalisierung. Jetzt will es die neue Regierung.

Und wo stehen wir? Noch immer im Neuland. Kaum weitergekommen.

Klar, man muss irgendwo anfangen. Viele kleine Schritte machen auch einen Unterschied. Die aktuellen Pläne klingen pragmatischer als früher. Das erkenne ich an.

Aber es fehlt noch so verdammt viel zu einem wirklich digitalen Land. Und die Vergangenheit lehrt: Zwischen Ankündigung und Realität liegen in Deutschland oft Welten.

Was andere längst können

Während wir über Konzepte reden, läuft anderswo längst die Praxis. Litauen zum Beispiel. 90% der Behördengänge digital[5]. Unternehmensgründung in maximal 3 Tagen[6]. Vollautomatische Fahrzeuganmeldung[7]. Digitales Gesundheitssystem[8].

Estland? 99% der öffentlichen Dienstleistungen digital[9]. Steuererklärung in 5 Minuten[10]. Seit über 20 Jahren[11].

Dänemark? 98% nutzen die digitale Identität[12]. Ein Portal für alles[13]. Seit 2001[14].

Und Deutschland? Wir planen bis 2029. Vielleicht.

Die NATO-Lunch-Einladung

Unsere Minister sind gerade oft in Litauen. NATO-Treffen und so. Vielleicht könnte ja mal der litauische Digitalminister unsere Minister zum Lunch einladen? Ein bisschen Show and Tell. „Schaut mal, hier funktioniert Digitalisierung. Wollt ihr auch?“

Ich weiß: 1:1 kopieren geht nicht. Deutschland hat 83 Millionen Einwohner, Litauen 2,8 Millionen. Wir haben 16 Bundesländer, die alle ihr eigenes Süppchen kochen wollen. Das ist komplex.

Aber verdammt nochmal – die technischen Standards sind dieselben. Die DSGVO gilt überall in der EU. Andere schaffen es auch. Mit denselben Regeln.

Die eID-Katastrophe

35% der Deutschen haben die eID-Funktion aktiviert. Nur 25% nutzen sie[15]. Das ist seit 14 Jahren so[16].

Warum? Weil wir den kompliziertesten Weg gewählt haben. Chipkarten-Technologie. Aktivierung nur im Bürgeramt. Spezielle Lesegeräte. Apps, die niemand versteht.

Andere Länder? SMS-TAN. Smartphone-Apps. Direkt mit dem Bankkonto verknüpft[17]. Automatisch aktiv[18]. Einfach zu nutzen.

Deutschland? Overengineering at its finest.

Warum nicht Apple und Google Wallet?

Das bringt mich zu meinem Lieblings-Aufreger: Digitale Ausweise.

Die USA nutzen seit Jahren Apple Wallet für Führerscheine und Ausweise. Acht Bundesstaaten machen das bereits[19]. Man scannt seinen Ausweis, macht ein Selfie, fertig. Am Flughafen akzeptiert die TSA das iPhone als Ausweis[20].

Deutschland? Wir entwickeln für jeden Ausweis eine eigene App. Die i-Kfz-App für den Fahrzeugschein[21]. Die AusweisApp für die eID. Demnächst kommt die EUDI-Wallet für die EU[22].

Jede dieser Apps kostet Millionen. In der Entwicklung. In der Wartung. In der Verwirrung der Nutzer.

Apple und Google Wallet sind bereits da. Sicher. Benutzerfreundlich. Millionenfach getestet. Hardware-verschlüsselt[23]. Biometrisch gesichert[24].

Aber nein. Deutschland will ja alles selbst machen. Kontrollieren. Überregulieren.

Das Ergebnis? Apps, die niemand nutzt. Systeme, die nicht funktionieren. Verschwendete Steuergelder.

Die DOGE-Lektion

Elon Musk ist ein Idiot. Keine Frage. Aber sein kurzer Einsatz im „Department of Government Efficiency“ hatte einen richtigen Kern: Manchmal muss man radikal aufräumen.

Die Ausführung war katastrophal. Willkürlich. Chaotisch. So macht man das nicht.

Aber der Grundgedanke? Strukturen hinterfragen. Überflüssiges streichen. Effizienz schaffen. Das ist nicht falsch.

Deutschland braucht nicht mehr Konzepte. Nicht mehr Arbeitsgruppen. Nicht mehr „Bis 2029 wollen wir“.

Deutschland braucht Macher. Die einfach mal loslegen. Die Standards übernehmen statt neu zu erfinden. Die pragmatisch denken statt perfektionistisch.

Was wirklich helfen würde

Eine zentrale digitale Identität. Eine für alles. Nicht 47 verschiedene Logins und Portale.

ISO-Standards übernehmen. Apple und Google Wallet für deutsche Ausweise zertifizieren[25]. Fertig.

Föderale Kleinstaaterei beenden. Nicht jedes Bundesland muss sein eigenes System bauen[26].

„Once-Only“-Prinzip konsequent umsetzen. Daten einmal eingeben, dann automatisch weiterverwendet[27]. Wie in Estland seit 20 Jahren.

Aufhören mit der Datenschutz-Paranoia. Andere EU-Länder haben dieselben Regeln und bekommen es trotzdem hin[28].

Fazit

Die Modernisierungsagenda ist ein Schritt. In die richtige Richtung vielleicht. Aber viel zu klein. Viel zu langsam. Viel zu deutsch.

Während wir Bürokratiemeldestellen einrichten, nutzen andere längst funktionierende digitale Verwaltungen.

Der Witz ist: Man darf heute mehr denn je sagen und tun. Nur halt nicht pragmatisch und effizient, wenn es um Behörden-IT geht.

Vielleicht sollten wir wirklich mal unsere NATO-Partner in Litauen zum Lunch einladen. Nicht zum Reden. Zum Zuhören und Lernen.

Denn eines ist klar: Noch 20 Jahre Strategiepapiere können wir uns nicht leisten.


Quellen

[1] Bundesministerium für Digitales und Staat (2025): Modernisierungsagenda für ein schnelles Deutschland

[2] n-tv (2025): Bundesregierung beschließt Modernisierungsagenda

[3] Deutsche Handwerks Zeitung (2025): Handwerk begrüßt Modernisierungsagenda

[4] n-tv (2025): Digitalminister Wildenberger kündigt Bürokratiemeldeportal an

[5] Smart Country Berlin (2019): Lösungen für den öffentlichen Sektor in Litauen

[6] IHK Osnabrück (2021): IHK Länderabend Litauen

[7] Business Insider (2019): Smart Country: Litauen macht Behördengänge überflüssig

[8] IHK Osnabrück (2021): IHK Länderabend Litauen

[9] Blog Xolo (o.J.): E-Residency Estland

[10] Blog Xolo (o.J.): E-Residency Estland

[11] t3n (2023): E-Residency: Estland und digitales Unternehmertum

[12] IHK Osnabrück (2023): Digitalisierung

[13] Smart Country Berlin (o.J.): Digitale Bürgerämter und mehr – Dänemarks Spitzenstellung in der EU

[14] Universität Münster (o.J.): Der Blick gen Norden: Deutschland und Dänemark im Vergleich

[15] Wirtschaftsdienst (2025): Wer hat die elektronische Ausweisfunktion aktiviert?

[16] Süddeutsche Zeitung (2023): eID: Personalausweis Deutschland – Funktion, Identität, Probleme

[17] IHK Osnabrück (2023): Digitalisierung

[18] Max-Planck-Gesellschaft (2022): Digitale Identität im Praxistest

[19] US-Kanzlei (o.J.): Personalausweis und Führerschein können zum Apple Wallet hinzugefügt werden

[20] Heise Online (2022): Apples iPhone-Ausweis startet in den USA

[21] Bundesdruckerei (2025): Digitaler Fahrzeugschein kommt aufs Smartphone

[22] Guter Rat (2025): EUDI Wallet – sicher digital identifizieren in Europa

[23] Apple Support (o.J.): Apple Platform Security Guide

[24] Apple Support (o.J.): Ausweis zum Apple Wallet hinzufügen

[25] Heise Online (2022): Apples iPhone-Ausweis startet in den USA

[26] Tagesspiegel Background (o.J.): Neue Denkansätze für die Kooperation im Föderalismus

[27] Markt und Mittelstand (2025): Bundesregierung modernisiert Staat

[28] IHK Osnabrück (2023): Digitalisierung

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