Föderalismus in Deutschland: Luxus oder Lähmung?
Ist der Föderalismus in Deutschland noch zeitgemäß? Oder ist das Ganze mittlerweile eher ein bürokratisches Monster, das uns mehr behindert als nutzt? Die Frage beschäftigt mich schon länger. Und ehrlich gesagt: Die Antwort ist kompliziert.
Das Problem liegt auf der Hand
Fangen wir mit dem Offensichtlichen an. Fast 70 Prozent der Deutschen lehnen die Zuständigkeit der Länder für Bildung ab.[1] Das ist keine Minderheitenmeinung mehr, das ist ein klares Signal. Und ich verstehe es absolut.
Wir haben 16 verschiedene Schulsysteme in diesem Land. Sechzehn! Deutschland hat sich eine „beispiellose Unübersichtlichkeit“ bei Schulformen geschaffen.[2] Familien, die umziehen müssen, erleben einen „schulischen Albtraum“. Unterschiedliche Lehrpläne, verschiedene Benotungssysteme, andere Versetzungsregeln. Was in Bayern das Abitur ist, hat in Bremen einen komplett anderen Stellenwert. Das ist absurd.
Die PISA-Ergebnisse werden schlechter. Ein Fünftel der Schüler kann nicht richtig lesen und schreiben, Experten sprechen von einer „Bildungskatastrophe“.[3][4] Marode Schulgebäude, Lehrermangel. Und währenddessen streiten sich 16 Bildungsminister darüber, wer eigentlich das Sagen hat. Der Bildungsgipfel 2023 ist gescheitert – 14 von 16 Ministern sind demonstrativ ferngeblieben.[1][3] Das ist kein Föderalismus mehr, das ist „Ego-Föderalismus“.[3]
Polizei: Der rechtliche Flickenteppich
Aber es geht nicht nur um Bildung. Nehmen wir die Polizei. 17 unterschiedliche Besoldungs-, Versorgungs- und Laufbahnrechte sowie verschiedene Polizeigesetze und Versammlungsrechte.[5] Was in Hamburg eine Straftat ist, gilt in Schleswig-Holstein als Ordnungswidrigkeit.
Bei der Terrorismusbekämpfung wird das richtig gefährlich. Das Versagen bei NSU und im Fall Amri wird teilweise auf die föderale Struktur zurückgeführt.[6] Terroristen und organisierte Kriminalität interessieren sich nicht für Ländergrenzen. Unsere Sicherheitsarchitektur aber schon.
Digitalisierung: Der teure Schnittstellendschungel
Und dann ist da noch die Digitalisierung. Hier wird es richtig teuer und richtig absurd.
Jedes Bundesland hat seine eigenen IT-Systeme. Teilweise hat jede Kommune ihre eigene Software. NRW nutzt für sein Bürgerkonto das ELSTER-Protokoll. Niedersachsen setzt auf SAML – ein völlig anderes Protokoll mit anderen Datenformaten und anderer Zertifizierung.[7] Dazu kommt dann noch die Bund-ID, die wieder anders funktioniert. Ein junger Entwickler beschreibt das als „Schnittstellendschungel“ und zeigt sich „verwirrt und enttäuscht vom Zustand der Digitalisierung im öffentlichen Sektor“.[7]
Das macht es nicht nur kompliziert. Es macht es zeitaufwändig und kostenintensiv. Eine Bitkom-Umfrage zeigt: 69 Prozent der Deutschen fordern, dass der Bund mehr Einfluss auf die Digitalisierung von Ämtern und Behörden bekommt. 65 Prozent sprechen sich für eine Föderalismusreform aus.[8][9] Der Digitalverband Bitkom warnt vor „teuren Doppelstrukturen“ und fordert eine gemeinsame föderale IT-Architektur.[8][9]
Über 460 der 575 Verwaltungsleistungen liegen in der Zuständigkeit der Bundesländer.[10] Das Ergebnis? Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Statt einmal richtig zu digitalisieren, wird 16-mal halbherzig entwickelt. Das verschlingt Unsummen und bringt am Ende niemanden weiter.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland bei E-Government nur im Mittelfeld oder gar in der Schlussgruppe.[11] Kein Wunder, wenn jedes Bundesland sein eigenes Ding macht.
Der Söder-Faktor
Besonders bizarr wird es, wenn Föderalismus zum reinen Machtinstrument wird. Markus Söder ist da ein Paradebeispiel. Wie die ZEIT es treffend formuliert: „Wir in Bayern gegen die da oben: Das ist das Leitmotiv von Söders Politik geworden.“[12]
Gender-Verbote an bayerischen Behörden. Nicht weil es ein echtes Problem gibt, sondern als symbolischer Akt gegen Berlin, gegen die Grünen, gegen „die da oben“. Der Föderalismus wird missbraucht für populistische Spielchen. Und das nervt mich gewaltig.
Aber: Können wir ihn einfach abschaffen?
Nein. Und das ist auch okay so.
Der Föderalismus hat durchaus seine Berechtigung. Regionale Identitäten sind real. Bayern ist anders als Schleswig-Holstein. Sachsen tickt anders als NRW. Diese Vielfalt ist Teil unserer demokratischen Kultur.
Außerdem: Die Kulturhoheit der Länder ist verfassungsrechtlich geschützt. Eine komplette Zentralisierung ist nicht nur unrealistisch, sie wäre auch gefährlich. Machtkonzentration ist nie eine gute Idee.
Der Schweizer Weg: Föderalismus, der funktioniert
Interessant ist der Blick in die Schweiz. Dort funktioniert Föderalismus tatsächlich. Die Kantone haben echte finanzielle Autonomie – sie kontrollieren zwei Drittel aller Staatseinnahmen. Sie können eigene Steuern erheben.[13][14] Und es gibt klare Kompetenzabgrenzungen: Der Bund macht nur das, was „die Kraft der Kantone übersteigt“.[14]
In Deutschland dagegen? Unsere Bundesländer generieren nur etwa 9 Prozent des BIP durch eigene Steuern – der Rest kommt vom Bund.[14] Sie sind finanziell abhängig, aber wollen trotzdem überall mitreden. Das ist das Schlimmste aus beiden Welten.
Meine Lösung: Radikale Klarheit
Wir brauchen eine Entflechtung. Echte Reformen. Und zwar so:
Bildung: Bundeskompetenzen für digitale Infrastruktur, Grundlagenforschung, Mindeststandards. Die Länder können darüber hinaus gerne ihre eigenen Akzente setzen. Aber diese „16-fache Unübersichtlichkeit“ muss weg. Ein Umzug von Hamburg nach München darf kein Bildungsrisiko sein.
Sicherheit: Das BKA braucht mehr Kompetenzen bei Terrorismus und organisierter Kriminalität. Punktuell, mit klaren Grenzen. Aber die aktuelle Zersplitterung ist nicht mehr tragbar.
Digitalisierung: Der Bund muss die rechtliche Möglichkeit bekommen, Kommunen direkt bei der Digitalisierung zu unterstützen. Einheitliche IT-Standards, eine gemeinsame föderale IT-Architektur, Ende mit dem Schnittstellendschungel. Das Once-Only-Prinzip muss kommen – Bürger sollten ihre Daten nicht 16-mal verschiedenen Behörden geben müssen.
Finanzen: Mehr Steuerautonomie für die Länder nach Schweizer Vorbild. Wer Verantwortung will, muss sie auch tragen können. Echte finanzielle Eigenständigkeit schafft echten Wettbewerbsföderalismus.
Das Fazit: Modernisierung, nicht Abschaffung
Der Föderalismus muss nicht weg. Er muss besser werden. Klare Zuständigkeiten statt Kompetenzwirrwarr. Bundeskompetenzen da, wo nationale Lösungen sinnvoll sind. Länderautonomie da, wo regionale Vielfalt Mehrwert schafft.
Was nicht mehr geht: Dieses endlose Hin und Her, diese „Kleinstaaterei“, die uns bei Digitalisierung, Klimaschutz und Bildung ausbremst. Und schon gar nicht geht dieser populistische Missbrauch à la Söder.
Deutschland braucht einen Föderalismus, der funktioniert. Nicht einen, der lähmt.
Quellen
[2] https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/145238/wie-der-staat-das-bildungswesen-praegt/
[3] https://www.jmwiarda.de/https-www.jmwiarda.de-2023-02-20-der-ego-bildungsfoederalismus
[5] https://www.gdp.de/Shared/DP/Mediadaten/2018/01/DP_2018_01.pdf
[8] https://www.datensicherheit.de/foederalismusreform-bund-direkthilfe-kommunen-digitalisierung
[9] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Bund-Kommunen-Digitalisierung
[10] https://www.digitale-verwaltung.de/SharedDocs/interviews/Webs/DV/DE/2020/richter-keynote.html
[11] https://www.bidt.digital/themenmonitor-staat-verwaltung/
[12] https://www.zeit.de/kultur/2024-03/foederalismus-markus-soeder-us-republikaner-populismus
[13] https://swissfederalism.ch/de/foderalismus-schweiz-foderalen-landern/
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%B6deralismus_in_der_Schweiz
