Der Rentenstreit: Wie ein Prozentpunkt die Koalition zu sprengen droht
Die schwarz-rote Koalition steht vor ihrer nächsten großen Zerreißprobe. Und weshalb? Der Rentenstreit um einen einzigen Prozentpunkt. Die Junge Union blockiert, die SPD mauert, und Kanzler Merz versucht zu vermitteln. Was nach technischem Klein-Klein klingt, könnte die Regierung tatsächlich zu Fall bringen. Zeit, die Lage zu sortieren.
Was bedeutet „Rentenniveau“ überhaupt?
Bevor wir in den politischen Schlagabtausch einsteigen, kurz die Grundlagen: Das Rentenniveau ist keine absolute Zahl, sondern ein Verhältniswert. Es beschreibt, wie viel Prozent des aktuellen Durchschnittseinkommens jemand als Rente bekommt, der 45 Jahre lang zum Durchschnittseinkommen eingezahlt hat.[1]
Ein Rentenniveau von 48 Prozent heißt konkret: Wer ein Arbeitsleben lang durchschnittlich verdient hat, erhält etwa 1.613 Euro Rente bei einem Durchschnittseinkommen von circa 3.359 Euro.[2] In den 1980ern lag das Niveau noch bei 57 Prozent, im Jahr 2000 bei 53 Prozent – also deutlich höher als heute.[3]
Die Haltelinie: Ein Versprechen bis 2031
Um zu verstehen, was die Haltelinie bedeutet, muss man erstmal den Nachhaltigkeitsfaktor kennen. Der wurde 2004 in die Rentenformel eingebaut und ist im Grunde ein demografischer Bremsmechanismus.[4] Die Logik dahinter: Wenn das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern schlechter wird – also mehr Rentner auf weniger Arbeitnehmer kommen –, dann steigen die Renten langsamer als die Löhne.
Ein Beispiel: Steigen die Löhne um 3 Prozent, würden die Renten normalerweise auch um etwa 3 Prozent steigen. Mit dem Nachhaltigkeitsfaktor könnten es aber nur 2,5 oder 2 Prozent sein, je nachdem wie stark die Bevölkerung altert. Die Differenz sorgt dafür, dass die Beitragssätze nicht explodieren und die jüngere Generation nicht überfordert wird. Klingt erstmal sinnvoll – hat aber einen Haken: Das Rentenniveau sinkt kontinuierlich.
Genau das soll die Haltelinie verhindern. Sie ist eine gesetzliche Untergrenze, die 2019 eingeführt wurde.[4] Sie besagt: Das Rentenniveau darf nicht unter 48 Prozent fallen – und zwar egal, was die normale Rentenformel mit dem Nachhaltigkeitsfaktor ergeben würde. Droht das Niveau unter diese Marke zu rutschen, greift der Staat ein und zahlt die Differenz aus Steuermitteln. Der Nachhaltigkeitsfaktor würde damit faktisch außer Kraft gesetzt.
Und das kostet. Ab 2027 werden zusätzliche Bundesmittel benötigt – startend bei etwa 100 Millionen Euro, ansteigend auf rund 10,1 Milliarden Euro pro Jahr bis 2031.[5] Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, diese Haltelinie bis 2031 zu garantieren. Soweit, so unstrittig.
Der Streit: Was passiert ab 2032?
Ab 2032 soll der Nachhaltigkeitsfaktor wieder wirken und die Haltelinie nicht mehr angewendet werden. Das Rentenniveau würde dann sinken – laut Prognosen auf etwa 46 Prozent bis 2040.[6] Die Frage ist: Von welchem Ausgangspunkt aus beginnt dieser Rückgang?
Arbeitsministerin Bärbel Bas‘ Gesetzentwurf sieht vor, dass ab 2032 von 48 Prozent aus gerechnet wird – also dem Niveau, das durch die Haltelinie gesichert wurde. Die Junge Union fordert hingegen, dass die Berechnung bei 47 Prozent beginnen soll – dem hypothetischen Niveau, das sich ohne Haltelinie ergeben hätte.[3]
Wenn man mit dem Auto irgendwo anhält und später weiterfährt, dann fährt man an der Stelle weiter, wo man angehalten hat, und nicht an der Stelle, wo man wäre, wenn man nicht angehalten hätte.
Friedrich Merz
Merz erklärte die Logik des Gesetzentwurfs mit einem eingängigen Bild: „Wenn man mit dem Auto irgendwo anhält und später weiterfährt, dann fährt man an der Stelle weiter, wo man angehalten hat, und nicht an der Stelle, wo man wäre, wenn man nicht angehalten hätte.“[3]
Dieser eine Prozentpunkt macht einen Unterschied von rund 120 Milliarden Euro bis 2040.[3]
Die Positionen: Ein Patt ohne Ausweg?
Die SPD bleibt eisern. Lars Klingbeil formuliert es unmissverständlich: „An diesem Gesetz wird nichts mehr geändert.“[7] Für die Sozialdemokraten ist die Stabilisierung des Rentenniveaus ein Kernversprechen. Bei der Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag war dieses Thema entscheidend für die Zustimmung.[8] Jede Änderung würde die SPD als Vertrauensbruch empfinden.
Die Junge Union hält dagegen. Etwa 18 Abgeordnete haben sich darauf geeinigt, dem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen. Bei einer Mehrheit von nur 12 Stimmen reicht das, um das Paket zu kippen.[7] Ihr Argument: Die 120 Milliarden Euro könnten für Zukunftsinvestitionen genutzt werden statt für ein höheres Ausgangsniveau bei der Rente. JU-Chef Johannes Winkel spricht von „Generationengerechtigkeit“ – die Jungen zahlen ein, bekommen aber später selbst weniger raus.[7]
Friedrich Merz steckt in der Zwickmühle. Offiziell verteidigt er das Gesetz, dem er selbst im Kabinett zugestimmt hat. Gleichzeitig sympathisiert er wohl inhaltlich mit der Kritik der Jungen Union. Intern wird bereits spekuliert, wie man den Rebellen eine gesichtswahrende Rückzugsmöglichkeit bieten könnte.[7]
Das Absurde: Warum streiten wir über 2032?
Jetzt wird’s richtig grotesk. Denn eigentlich müsste über 2032 gar nicht jetzt entschieden werden. Die Koalition plant, noch vor Jahresende 2025 eine Rentenkommission einzusetzen, die bis zur Sommerpause 2026 Vorschläge für eine grundlegende Reform vorlegen soll.[9]
Diese Kommission soll genau die Fragen klären, über die jetzt gestritten wird: Wie finanziert man das Rentensystem langfristig? Was passiert nach 2031? Welche strukturellen Reformen braucht es?
22 führende Ökonomen – darunter ifo-Präsident Clemens Fuest, mehrere Wirtschaftsweise und bemerkenswerterweise auch Jörg Rocholl, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Finanzministerium von SPD-Chef Klingbeil – fordern deshalb den kompletten Rückzug des Rentenpakets. Ihre Begründung: „Für Stabilität, Verlässlichkeit und Vertrauen braucht es eine Rentenpolitik mit langem Atem, die berechenbar und fiskalisch nachhaltig ist. Das geplante Rentenpaket verfehlt dieses Ziel.“[10]
Das Problem: Der Gesetzentwurf legt schon jetzt fest, dass das Rentenniveau „auch nach 2031 um rund einen Prozentpunkt höher“ liegt als im geltenden Recht.[11] Diese Formulierung steht zwar nur in der Erläuterung des Gesetzes, nicht im eigentlichen Rechtstext. Aber sie schafft eine Vorfestlegung, die der Rentenkommission faktisch Spielraum nimmt.
Man könnte das Thema also vertagen, die Kommission arbeiten lassen und dann auf Basis fundierter Vorschläge entscheiden. Stattdessen: ideologischer Grabenkrieg.
Die Gefahr für die Koalition
Die Lage ist ernst. Ohne die Stimmen der Jungen Gruppe hat die Koalition keine sichere Mehrheit. Die Situation erinnert an die gescheiterte Wahl der Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf, bei der Unionsabgeordnete abweichend stimmten.[12]
Söder warnt eindringlich: „Was im schlimmsten Fall sogar zum Zerfall der Regierung führen könnte. Das wäre ein verheerendes Signal, von dem letztlich nur die Radikalen profitieren würden.“[13] Merz hat eine Vertrauensfrage bereits ausgeschlossen – intern wird befürchtet, dass ein solcher Schritt die Union „in ihren Grundfesten erschüttern“ würde.[7]
Es gibt im Wesentlichen vier Szenarien:
Szenario 1: Einigung in letzter Minute. Merz bietet der Jungen Union einen Kompromiss an – etwa einen Entschließungsantrag, der die baldige Arbeit der Rentenkommission und weitere Reformen verbindlich zusichert. Die Junge Gruppe könnte damit gesichtswahrend zustimmen.[14]
Szenario 2: Die Linke springt ein. Die Linkspartei erwägt, dem Rentenpaket zuzustimmen, da sie sowohl die Haltelinie als auch die Mütterrente unterstützt.[7] Das wäre für Merz politisch heikel – eine Reform „gestützt“ durch Linken-Stimmen.
Szenario 3: Verschiebung ins neue Jahr. Das würde Zeit zum Verhandeln schaffen, wird aber von SPD und CSU abgelehnt, weil dann auch die Aktivrente und die Mütterrente nicht zum 1. Januar 2026 in Kraft treten könnten.[15]
Szenario 4: Scheitern und Regierungskrise. Das gefährlichste Szenario. In Teilen des „harten Kerns“ um Merz wird bereits das Szenario einer Minderheitsregierung diskutiert.[12]
Bessere Lösungsmöglichkeiten
Statt über einen Prozentpunkt zu streiten, wäre eine ehrliche Debatte über die Zukunft der Rente sinnvoller. Die Experten haben dazu klare Vorschläge:
Renteneintrittsalter an Lebenserwartung koppeln: Nach niederländischem Modell würde bei drei Jahren mehr Lebenserwartung das Rentenalter um zwei Jahre steigen, die Rentenbezugszeit aber nur um ein Jahr. Das würde das System stabilisieren, ohne es zu überfordern.[16]
Abschaffung der vorgezogenen Renten: 2023 hatten nur 45 Prozent der Neurentner das reguläre Rentenalter erreicht. Fast jeder Dritte nutzte die „Rente mit 63“.[16] Hier ließe sich ansetzen.
Stärkung kapitalgedeckter Vorsorge: Die geplante Frühstartrente ist ein erster Schritt, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.[16]
Differenzierung nach Einkommen: Rentenexperte Axel Börsch-Supan schlägt vor, das Rentenniveau nur für Geringverdiener stabil zu halten: „Wer hingegen als Rentner schon jetzt finanziell gut dasteht, der kann und sollte an den Kosten des demografischen Wandels beteiligt werden.“[17]
Diese Reformen sind komplex und politisch heikel. Aber sie würden das System tatsächlich zukunftsfest machen – statt nur den Status quo teuer zu konservieren.
Was nun?
Was wir gerade erleben, ist Politik im schlechtesten Sinne. Beide Seiten haben sich in Maximalpositionen verrannt. Die SPD klammert sich an ein Versprechen, das langfristig unbezahlbar werden könnte. Die Junge Union inszeniert sich als Anwalt der Jugend, blockiert aber eine Lösung, der ihre eigene Parteiführung zugestimmt hat.
Das Tragische: Die eigentliche Frage wird gar nicht diskutiert. Nicht „48 oder 47 Prozent ab 2032“, sondern „Wie sichern wir den Menschen in 20 Jahren noch eine auskömmliche Rente?“ sollte im Zentrum stehen.
Die Rentenkommission könnte diese Debatte führen. Aber dafür müsste man sie auch ihre Arbeit machen lassen, statt jetzt schon Vorfestlegungen zu treffen. Merz‘ Vorschlag eines Entschließungsantrags ist der richtige Weg: Das Gesetz durchwinken, aber verbindlich zusichern, dass 2026 eine echte Reform kommt.
Wenn die Koalition an dieser Frage scheitert, hat sie ein fundamentales Problem. Nicht weil die Rentenfrage unlösbar wäre, sondern weil beide Partner offenbar nicht in der Lage sind, über ihre parteipolitischen Reflexe hinauszudenken. Und das wäre dann tatsächlich eine schlechte Nachricht – nicht nur für Rentner, sondern für uns alle.
Quellen
[1] DGB: Rente – https://www.dgb.de/geld/rente/
[2] Allianz: Rentenniveau – https://www.allianz.de/vorsorge/rente/rentenniveau/
[3] ZDF: Rente-Streit FAQ – https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/rente-pension-diskussion-merz-junge-union-faq-100.html
[4] Deutsche Rentenversicherung: Haltelinien – https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/FAQ/Gesetzesaenderungen/Leistungsverbesserungs_und_Stabilisierungsgesetz/Haltelinien_Rentenniveau.html
[5] BMAS: Rentenpaket FAQ – https://www.bmas.de/DE/Soziales/Rente-und-Altersvorsorge/Fragen-und-Antworten-Rentenpakt/faq-rentenpakt.html
[6] Bundesregierung: Rentenbericht 2025 – https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rentenbericht-2025-2394260
[7] taz: Streit über Rentenpaket – https://taz.de/Streit-ueber-Rentenpaket/!6126504/
[8] ZDF: Rente-Streit Szenarien – https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/rente-junge-union-diskussion-szenarien-optionen-100.html
[9] Deutschlandfunk: Reform der Altersvorsorge – https://www.deutschlandfunk.de/reform-der-altersvorsorge-rente-deutschland-100.html
[10] Handelsblatt: Ökonomen fordern Rückzug – https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/aufruf-top-oekonomen-fordern-vollstaendigen-rueckzug-des-rentenpakets/100177101.html
[11] taz: Streit um Rentenpaket – https://taz.de/Streit-um-Rentenpaket-I/!6116597/
[12] Focus: Implodiert die Koalition – https://www.focus.de/politik/deutschland/implodiert-die-koalition-wegen-der-rente-diese-brisanten-szenarien-kursieren_f54df10d-eda6-466c-b66a-0d73ad0a452e.html
[13] BR: Söder warnt vor Vertrauensfrage – https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/soeder-warnt-vor-vertrauensfrage-im-rentenstreit,V3OmD9z
[14] Frankfurter Rundschau: Merz unter Druck – https://www.fr.de/politik/merz-unter-druck-kompromisslose-haltungen-im-rentenstreit-bringen-koalition-in-gefahr-zr-94052309.html
[15] Tagesschau: Rentenstreit – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/rentenstreit-bab-100.html
[16] Handelsblatt: Zehn Reformvorschläge – https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/rente-zehn-reformvorschlaege-welche-taugen-wirklich-was/100176123.html
[17] Tagesspiegel: Experte gibt jungen Abgeordneten recht – https://www.tagesspiegel.de/politik/eine-enorme-mehrbelastung-experte-borsch-supan-gibt-jungen-abgeordneten-im-rentenstreit-recht-14898374.html

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