Das Bürgergeld ist Geschichte – und nichts hat sich geändert

Heute haben Union und SPD ihre Reform des Bürgergeldes verkündet. Markus Söder ließ es sich nicht nehmen zu verkünden: „Das Bürgergeld ist Geschichte.“1 Klingt dramatisch. Klingt nach großem Wurf. Klingt nach Zeitenwende.

Spoiler: Es ist nur eine Umbenennung.

Was sich wirklich ändert

Das Bürgergeld heißt jetzt „Grundsicherung für Arbeitssuchende“.1 Die Sanktionen werden verschärft. Wer dreimal nicht zum Jobcenter-Termin erscheint, verliert alle Leistungen – auch Miete und Heizung.12 Bei Arbeitsverweigerung werden die Geldleistungen sofort gestrichen.2 Die Karenzzeit beim Vermögen fällt weg, stattdessen wird das Schonvermögen an die „Lebensleistung“ gekoppelt.13

Das war’s. Keine strukturellen Reformen. Keine neuen Qualifizierungsprogramme. Keine Antworten auf die tatsächlichen Probleme des Arbeitsmarkts. Nur härtere Strafen für die, die ohnehin schon am Rand stehen.

Die Milliarden, die nie kamen

Erinnert sich noch jemand an die großen Versprechen? Die Union sprach im Wahlkampf von bis zu 10 Milliarden Euro Einsparung pro Jahr.45 Dann wurde es ein „zweistelliger Milliardenbereich“.6 Friedrich Merz korrigierte auf 5 Milliarden.75

Und heute? Arbeitsministerin Bärbel Bas gibt offen zu: „Der Betrag wird sehr klein sein.“8 Durch die Sanktionen allein würden nur „geringe Einsparungen“ erzielt.58 Eine konkrete Zahl? Wurde heute nicht mehr genannt.

Von 10 Milliarden auf „sehr klein“ – das ist kein Rechenfehler. Das ist das Eingeständnis, dass die ganze Debatte auf falschen Prämissen aufgebaut war.

Das Problem, das niemand lösen will

Die Recherchen zu den tatsächlichen Kostentreibern beim Bürgergeld zeichnen ein völlig anderes Bild als die öffentliche Debatte.

60 bis 66 Prozent der langzeitarbeitslosen Bürgergeld-Empfänger haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.910 Gleichzeitig richten sich 80 Prozent aller offenen Stellen an Fachkräfte mit Ausbildung oder Studium.1011 Nur 1,4 Prozent der 11,6 Millionen ausgeschriebenen Stellen – etwa 160.000 – sind für ungelernte Arbeitskräfte bestimmt.10

Das ist der Kern des Problems: Ein struktureller Qualifikations-Mismatch. Keine Faulheit. Keine Verweigerung. Einfach keine passenden Jobs für Menschen ohne Ausbildung.

826.000 Menschen arbeiten bereits und beziehen trotzdem Bürgergeld als „Aufstocker“.1213 Darunter sind 81.419 Vollzeitbeschäftigte, die allein von ihrer Arbeit nicht leben können.1314 Der Staat subventioniert damit indirekt niedrige Löhne mit sieben Milliarden Euro jährlich.1214

Über 700.000 ukrainische Staatsangehörige beziehen Bürgergeld und verursachen Kosten von 6,3 Milliarden Euro.151617 Das ist ein temporärer Sondereffekt, keine Strukturschwäche des Sozialstaats.

Diese drei Faktoren allein erklären einen Großteil der Kosten. Und keiner davon wird durch härtere Sanktionen auch nur ansatzweise gelöst.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache

2023 erhielten nur 2,6 Prozent aller erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfänger eine Sanktion.18 97 Prozent blieben völlig sanktionsfrei. Von 226.008 Leistungsminderungen entfielen nur 15.774 auf Arbeitsverweigerung.18 Der Hauptgrund für Sanktionen waren Terminversäumnisse – oft aus gesundheitlichen Gründen.

Das Märchen vom Totalverweigerer

Die Reform wird mit dem Bild der „Totalverweigerer“ begründet – Menschen, die angeblich lieber auf dem Sofa sitzen als zu arbeiten. Die Realität sieht völlig anders aus.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) stellte bereits fest: „Totalverweigerer“ sind extrem selten.19 Die Zahlen bestätigen das eindrücklich. Nur 15.774 von 226.008 Sanktionen betrafen tatsächliche Arbeitsverweigerung.18Das sind 7 Prozent aller Sanktionen – oder 0,3 Prozent aller Bürgergeld-Empfänger.

Von den 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfängern sind nur 1,7 Millionen als arbeitslos registriert.2021 Die anderen 2,2 Millionen? Sie arbeiten bereits als Aufstocker, betreuen Kinder, pflegen Angehörige, haben gesundheitliche Einschränkungen, nehmen an Qualifizierungsmaßnahmen teil oder sind in arbeitsmarktpolitischen Programmen.2021

90 Prozent der erwerbslosen Bürgergeld-Empfänger haben sogenannte Vermittlungshemmnisse:1022

  • 280.000 Langzeitarbeitslose sind über 55 Jahre alt – für viele Arbeitgeber schlicht unattraktiv10
  • 60 bis 66 Prozent haben keine abgeschlossene Berufsausbildung – bei 80 Prozent der Stellen wird aber genau das verlangt91011
  • Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen sind sehr häufig23
  • Suchtprobleme, deren Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit in über 50 internationalen Studien belegt ist24
  • Schwerbehinderungen, chronische Krankheiten und fehlende Kinderbetreuung, besonders bei Alleinerziehenden10

58 Prozent der Empfänger beziehen bereits über ein Jahr Leistungen, 42 Prozent sogar über vier Jahre.21910 Das liegt nicht an Faulheit, sondern an unzureichenden Betreuungskapazitäten in den Jobcentern und zu wenigen Qualifizierungsprogrammen.

Die Chancen für Betroffene liegen laut Arbeitsministerium auf einem „historischen Tiefstand“.11 Gleichzeitig herrscht Fachkräftemangel – ein Paradox, das die strukturellen Probleme des Arbeitsmarkts verdeutlicht: Es fehlen nicht Menschen, die arbeiten wollen. Es fehlt die Passung zwischen Qualifikation und Stellenanforderungen.

Und dann ist da noch die WSI-Studie vom August 2025, die das häufigste Argument komplett widerlegt. „Arbeit muss sich mehr lohnen als Bürgergeld“, heißt es immer. Tut sie längst: Singles mit Mindestlohn-Vollzeitjob haben 557 Euro mehr pro Monat als mit Bürgergeld, Alleinerziehende mit einem Kind sogar 749 Euro Mehrverdienst.2526 WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch: „Die Debatte, dass es sich für Bezieher von Bürgergeld nicht lohnt, arbeiten zu gehen, weil sie zu viel bekämen, ist Unsinn.“2728

Keine Frage, es gibt Menschen, die sich auf den Bezügen ausruhen, obwohl sie arbeiten könnten. Aber das ist – wie die Zahlen zeigen – ein verschwindend geringer Bruchteil. Die überwiegende Mehrheit kämpft mit strukturellen Problemen, die mit Sanktionen nicht zu lösen sind.

Was tatsächlich funktioniert

Die Forschung ist eindeutig. Abschlussorientierte Weiterbildungen bringen 13 Prozentpunkte höhere Beschäftigungsquoten.2930 Der Soziale Arbeitsmarkt durch das Teilhabechancengesetz gilt als großer Erfolg: 42.000 Menschen fanden nach einem Jahr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.31 Job-Coaching für Langzeitarbeitslose hat sich bewährt.3233

Und was funktioniert nicht? Ein-Euro-Jobs haben negative Beschäftigungseffekte.3034 Sanktionsverschärfungen betreffen nur 3 Prozent aller Empfänger und „gehen an den wahren Ursachen vorbei“.3536

Das WSI hat im August 2025 belegt: Arbeit lohnt sich bereits deutlich. Singles mit Mindestlohn-Vollzeitjob haben 557 Euro mehr pro Monat als mit Bürgergeld.2526 Alleinerziehende mit einem Kind sogar 749 Euro Mehrverdienst.2625 WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch stellt klar: „Die Debatte, dass es sich für Bezieher von Bürgergeld nicht lohnt, arbeiten zu gehen, weil sie zu viel bekämen, ist Unsinn.“2728

Symbolpolitik in Reinform

Das Wort Symbolpolitik wird oft inflationär verwendet. Hier passt es aber. Die Reform ändert im Kern nichts an den strukturellen Problemen. Sie adressiert nicht den Qualifikations-Mismatch. Sie löst nicht das Aufstocker-Problem. Sie schafft keine besseren Qualifizierungsprogramme. Sie erhöht nicht die Betreuungskapazitäten in den Jobcentern.

Stattdessen: Eine Umbenennung, verschärfte Sanktionen für eine kleine Minderheit und das Eingeständnis, dass die versprochenen Milliardeneinsparungen nie kommen werden.

Organisierte Kriminalität: Real, aber überschätzt

Ein völlig anderes Problem ist die organisierte Bürgergeld-Kriminalität. Die Zahlen sind tatsächlich gestiegen: Von 229 Fällen in 2023 auf 421 Fälle in 2024 – ein Plus von 84 Prozent.3738 Hauptsächlich betroffen ist Nordrhein-Westfalen, besonders das Ruhrgebiet.

Das Geschäftsmodell ist perfide: Banden aus Bulgarien und Rumänien locken Menschen mit falschen Jobversprechen nach Deutschland, organisieren Minijobs und Meldeadressen, beantragen Bürgergeld – und kassieren dann über überhöhte „Mieten“ in Schrottimmobilien ab.3739 Die Opfer werden brutal ausgebeutet, genau von denen, die sie hergeholt haben.

Warum ausgerechnet NRW? Der Strukturwandel im Ruhrgebiet hinterließ massenweise verfallene, leerstehende Immobilien, die Kriminelle günstig kaufen können.40 In Duisburg, Gelsenkirchen, Dortmund und Essen finden die Banden ideale Bedingungen.3941

Der finanzielle Schaden ist beträchtlich: Die Bundesagentur für Arbeit beziffert ihn auf 260 Millionen Euro jährlich, der Zoll kommt auf zusätzliche 87,9 Millionen Euro.4243 Insgesamt also etwa 270 bis 350 Millionen Euro pro Jahr.

Klingt nach viel. Ist aber bei Bürgergeld-Gesamtkosten von 50 bis 58 Milliarden Euro gerade mal 0,5 bis 0,7 Prozent.42Zum Vergleich: Die Deutsche Steuergewerkschaft beziffert Steuerhinterziehung auf 200 Milliarden Euro jährlich.42 Das ist ein 500- bis 700-facher höherer Schaden.

Das Problem ist real. Aber es wird medial massiv überproportional dargestellt und dient oft dazu, Ressentiments gegen Migration generell zu schüren. IAB-Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker stellt klar: „Rumänen sind Netto-Einzahler in unsere Sozialsysteme.“44 Bei Menschen aus Rumänien gibt es prozentual weniger Bürgergeld-Bezieher als bei Deutschen.

Die Reform löst auch dieses Problem nicht. Was fehlt, sind bessere IT-Vernetzung der 406 Jobcenter mit ihren unterschiedlichen Systemen, mehr Personal für Kontrollen und schnellerer Datenabgleich.4546 Hamburg zeigt mit seinem „Fachteam organisierter Leistungsmissbrauch“, dass effektive Bekämpfung möglich ist – mit nur fünf Mitarbeitern wurden 2.600 Fälle untersucht und eine Million Euro zurückgeholt.44

Was kommt als Nächstes?

Die interessanteste Frage ist jetzt eine andere: Womit will die Politik nun als Lösung für die Finanzprobleme werben? Das Bürgergeld war das große Thema. Der vermeintliche Geldfresser. Die einfache Erklärung für komplexe Haushaltsprobleme.

Jetzt ist es „Geschichte“ – Söders Wort –, auch wenn es faktisch nur umbenannt wurde. Die versprochenen Einsparungen sind ausgeblieben. Die strukturellen Probleme bestehen weiter. Der Haushalt ist nicht saniert.

Was also wird das nächste Thema sein, bei dem große Einsparungen versprochen werden? Welche Gruppe wird als nächstes für die Finanzprobleme verantwortlich gemacht? Und wie lange wird es dauern, bis auch dort die Milliardenversprechungen zu „sehr kleinen Beträgen“ schrumpfen?

Die Bürgergeld-Reform zeigt exemplarisch, wie Politik in Deutschland funktioniert: Große Ankündigungen, mediale Inszenierung, symbolische Maßnahmen. Und am Ende bleibt alles beim Alten – nur mit einem neuen Namen.


Quellen

  1. ZEIT Online: „Koalition einigt sich auf neue Grundsicherung“  2 3 4
  2. Surplus Magazin: „Grundsicherung Koalition Bürgergeld Reform“  2
  3. Evangelisch.de: „Koalition einigt sich auf härtere Sanktionen“ 
  4. Frankfurter Rundschau: „Bürgergeld-Reform“ 
  5. RP Online: „Grundsicherung: Wie die Koalition das Bürgergeld reformieren will“  2 3
  6. ZDF heute: „Linnemann CDU Bürgergeld Einsparung“ 
  7. Tagesschau: „Bürgergeld Merz Bas“ 
  8. n-tv: „Bürgergeld wird Grundsicherung“  2
  9. Bürgergeld.org: „Bildung entscheidet über Bürgergeld-Bezug“  2 3
  10. Merkur: „Warum finden Bürgergeld-Empfänger nicht einfach einen Job?“  2 3 4 5 6 7 8
  11. Merkur: „Trotz Fachkräftemangel: Millionen im Bürgergeld“  2 3
  12. n-tv: „800.000 Beschäftigte erhalten Bürgergeld“  2
  13. ZEIT: „Deutschland Aufstocker 2024“  2
  14. IW Köln: „Bürgergeld-Aufstocker“ (PDF)  2
  15. ZEIT: „Sozialleistungen Ukrainer“ 
  16. ZDF heute: „Bürgergeld Ukraine Zahlen“ 
  17. MDR: „Bürgergeld Ukrainer Kosten“ 
  18. Tagesschau: „Bürgergeld Regelsatz Kürzung“  2 3
  19. IAB Forum: „100-Prozent-Sanktionen“ 
  20. Frankfurter Rundschau: „Bürgergeld: Sozialleistung, Grundsicherung“  2
  21. Tagesschau Faktenfinder: „Bürgergeld: Die Fakten“  2 3
  22. Merkur: „Warum finden Bürgergeld-Empfänger nicht einfach einen Job?“ 
  23. Gegen-Hartz.de: „Psychisch erkrankt: Sozialhilfe oder Bürgergeld“ 
  24. Gegen-Hartz.de: „Bürgergeld: Anspruch auf Suchtberatung“ 
  25. WSI: „Einkommen bei Mindestlohn höher als Bürgergeld“  2 3
  26. n-tv: „Studie: Einkommen bei Mindestlohn deutlich höher“  2 3
  27. DGB Rheinland-Pfalz/Saarland: Pressemitteilung WSI-Studie  2
  28. Hans-Böckler-Stiftung: Pressemitteilung WSI-Studie  2
  29. IAB Forum: „Geförderte berufliche Weiterbildung“ 
  30. IAB Forum: „Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik“  2
  31. BMAS: „Teilhabechancengesetz“ 
  32. BR: „Vom Bürgergeld in den Job“ 
  33. MDR: „Bürgergeld Arbeitslose: Was hilft bei Jobsuche“ 
  34. IAB Forum: „Hohmeyer Moczall“ (PDF) 
  35. DGB: „Arbeitsmarktpolitik gegen Langzeitarbeitslosigkeit“ (PDF) 
  36. taz: „Forscher zu Bürgergeld-Sanktionen“ 
  37. WDR: „Bürgergeld: Organisierter Betrug – FAQ“  2
  38. Bürgergeld.org: „Bürgergeld-Abzocke: 400 Fälle“ 
  39. Tagesschau: „Bürgergeld-Mafia: Jobcenter melden Betrugsfälle“  2
  40. Focus: „Reportage aus Gelsenkirchen“ 
  41. Merkur: „Bas plant schärfere Gangart gegen Bürgergeld-Betrug“ 
  42. SoVD Schleswig-Holstein: „Wir steuern auf schwierige Zeiten zu“  2 3
  43. Zoll: Schwarzarbeit und Sozialleistungsbetrug (87,9 Millionen Euro Schaden) 
  44. NDR: „Sozialbetrug in Hamburg: Von mafiösen Banden keine Spur“  2
  45. WSI Mitteilungen: „IT-Systeme der Jobcenter“ (PDF) 
  46. Bundesagentur für Arbeit: „Datenabgleich und Überzahlungen im SGB II“ (PDF) 

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