Braucht Deutschland ein größeres Zelt? Was wir aus der Big Tent Politik lernen können
In den USA tobt gerade eine interessante Debatte. Der Podcaster Ezra Klein argumentiert im Interview mit dem New Yorker[^1], dass die Demokratische Partei nur gewinnen kann, wenn sie in ihren Reihen Platz für widersprüchliche Stimmen lässt. Seine These: „Die Theorie des großen Zelts bedeutet nicht nur, nach rechts zu rücken; es bedeutet auch, die Linke zu akzeptieren.“[^2]
Klein schlägt sogar vor, dass Demokraten in konservativen Bundesstaaten Pro-Life-Kandidaten auf dem demokratischen Ticket laufen lassen könnten. Seine Begründung: „Für viele von uns ist es einfacher geworden, sich das Ende des Landes vorzustellen, als einen Senatssitz in Missouri oder Arkansas zu gewinnen. Und ich denke, das ist ein Problem.“[^3]
Die Debatte hat unmittelbare Relevanz für Deutschland. Denn auch hier stellt sich die Frage: Wie groß darf, wie groß muss das Zelt sein?
Das deutsche Dilemma: Zwischen Brandmauer und Mehrheitsfähigkeit
Deutschland steht vor einem ähnlichen Problem wie die US-Demokraten – nur anders herum. Während die Demokraten versuchen, nach rechts zu expandieren, haben die deutschen Parteien der Mitte eine strikte Brandmauer nach rechts gezogen. Die AfD bleibt ausgeschlossen, Koalitionen sind undenkbar.
Gleichzeitig schrumpft der Raum in der Mitte. Die Union rückt nach rechts, die SPD verliert ihre Arbeiterschaft, die Grünen gelten vielen als elitär, die FDP als irrelevant. Das Ergebnis: Immer mehr Menschen fühlen sich politisch nicht mehr repräsentiert.
Kleins Kritik am „Diet Coke-Populismus“ trifft auch deutsche Verhältnisse. Viele etablierte Parteien kopieren oberflächlich populistische Rhetorik, ohne substanzielle Antworten zu liefern[^4]. Die CDU spricht plötzlich von „sozialer Gerechtigkeit“, die SPD entdeckt die „innere Sicherheit“, die Grünen versuchen sich als „Wirtschaftspartei“. Alles wirkt aufgesetzt.
Was bedeutet „Big Tent Politik“ für Deutschland?
Klein warnt vor einem Missverständnis: „Big Tent“ bedeute nicht, Prinzipien zu verraten. Es bedeute, pragmatisch zu sein. Sein Beispiel: Statt nur über „Corporate Greed“ zu reden, sollten Demokraten auch dysfunktionale Zoning-Gesetze und bürokratische Hürden angehen. Seine „Abundance Agenda“: mehr Wohnungen, bessere Infrastruktur, weniger Bürokratie[^5].
Übertragen auf Deutschland: Statt nur moralische Debatten zu führen, konkrete Probleme lösen. Die Wohnungskrise ist real. Die Bürokratie ist lähmend. Die Infrastruktur bröckelt. Menschen wollen nicht nur hören, was moralisch richtig ist – sie wollen Lösungen, die ihr Leben verbessern.
Aber hier liegt das Dilemma, das auch Ta-Nehisi Coates in seiner Debatte mit Klein ansprach: Beim „Zelt erweitern“ werden oft die Verletzlichsten unter den Bus geworfen[^6]. Wenn die SPD plötzlich „Obergrenze“ sagt, was bedeutet das für Geflüchtete? Wenn die Grünen „Realpolitik“ betreiben, was passiert mit dem Klimaschutz?
Klein antwortet darauf: Man brauche mehr Menschen im Zelt, um vulnerable Gruppen zu schützen. Eine Minderheitsregierung kann niemanden schützen[^6]. Aber Coates hat recht: Die Kosten dieser Kompromisse müssen benannt werden.
Der verengte Meinungskorridor und seine Folgen
Mein vorheriger Blogpost handelte davon, dass 84 Prozent der Deutschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung frei zu äußern. Das ist das Gegenteil eines „Big Tent“. Das ist ein winziges Zelt, in dem man nur überleben kann, wenn man die richtigen Dinge sagt.
Klein beschreibt genau dieses Phänomen auch für die USA. Nach der Ermordung von Charlie Kirk schrieb er, Kirk habe Politik „auf die richtige Art“ praktiziert – und erntete einen Shitstorm von Progressiven[^7]. Seine Verteidigung: „Wenn jemand ein Attentat auf eine politische Figur verübt, ist das ein Angriff auf jeden, der an Politik teilnimmt.“ Respekt vor der Trauer müsse auch für politische Gegner gelten[^7].
Das ist der Kern der „Big Tent“-Idee: Nicht mit allem einverstanden sein, aber den politischen Gegner als legitimen Akteur anerkennen. In Deutschland funktioniert das nicht mehr. Wer mit der „falschen“ Seite redet, wird selbst zum Ausgestoßenen. Wer die „falsche“ Frage stellt, wird gecancelt.
Klein warnt vor „oppositional mirroring“ – der Tendenz, die spalterischen Taktiken des Gegners einfach zu spiegeln[^7]. Genau das passiert in Deutschland. Die Rechten sagen „Man darf ja nichts mehr sagen“ – und etablieren ein System der Einschüchterung. Die Linken antworten mit Cancel Culture und Sprechverboten. Beide Seiten spiegeln sich gegenseitig in ihrer Intoleranz.
Meine Einschätzung: Ein Zelt, aber mit Wänden
Ich glaube nicht, dass Deutschland die AfD ins Zelt lassen sollte. Manche Positionen sind mit demokratischen Grundwerten nicht vereinbar. Die Brandmauer muss bleiben.
Aber innerhalb der demokratischen Parteien braucht es mehr Raum für Widerspruch. Die CDU muss liberale und konservative Stimmen aushalten können. Die SPD muss sowohl Arbeiter als auch Akademiker vertreten können. Die Grünen müssen Realpolitiker und Idealisten einen Platz bieten.
Kleins Methode ist richtig: „Ich versuche, Fragen ernst zu nehmen, die ich nicht mag. Ich versuche nicht zu beharren, dass die Welt so funktioniert, wie ich es will. Ich versuche ehrlich zu mir selbst zu sein, wie sie tatsächlich funktioniert.“[^8]
Das bedeutet konkret:
- Materielle Verbesserungen vor moralischen Debatten. Menschen brauchen bezahlbare Wohnungen, funktionierende Züge, gute Schulen.
- Pragmatismus statt Prinzipienreiterei. Kompromisse sind kein Verrat, sondern Politik.
- Respekt für unterschiedliche Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums. Nicht jeder, der andere Prioritäten hat, ist ein Feind.
- Konstruktive Lösungen statt bloßer Opposition. Was ist die Alternative?
Anand Giridharadas formuliert den entscheidenden Unterschied: Es gibt einen Unterschied zwischen „Menschen ins Zelt lassen“ und „ihnen das Zelt gehören lassen“[^6]. Das Zelt darf größer werden, aber die Grundwerte müssen bleiben.
Man darf ja nichts mehr sagen
In „Man darf ja nichts mehr sagen“ schrieb ich: Es gibt nur eine Wahrheit, aber viele Meinungen. Diskurs ist das Werkzeug, um gemeinsam der Wahrheit näherzukommen. Die „Big Tent“-Debatte zeigt: Dieser Diskurs braucht Raum. Er braucht die Bereitschaft, auch unbequeme Fragen zuzulassen.
Aber er braucht auch Grenzen. Nicht alles ist Meinung. Fakten bleiben Fakten. Demokratische Grundwerte bleiben nicht verhandelbar.
Die Kunst liegt darin, das Zelt groß genug zu machen für legitimen Streit – aber nicht so groß, dass die Wände einstürzen. Deutschland hat derzeit das gegenteilige Problem: Das Zelt ist so klein geworden, dass 84 Prozent der Menschen draußen stehen und sich nicht mehr trauen, überhaupt hineinzukommen.
Ein größeres Zelt wäre ein Anfang. Aber es braucht auch den Mut, darin zu streiten – konstruktiv, respektvoll und mit dem Ziel, gemeinsam Lösungen zu finden. Nicht um zu gewinnen, sondern um besser zu werden.
Quellen
[^1]: The New Yorker (2025): Ezra Klein Argues for Big-Tent Politics
[^2]: Apple Podcasts: Ezra Klein’s Big Tent Vision of the Democratic Party
[^3]: Rova NZ: Ezra Klein’s Big Tent Vision of the Democratic Party
[^4]: YouTube: Ezra Klein on Diet Coke Populism
[^5]: Vox Politics: Demand Progress Poll: Abundance Populism Democrats
[^6]: The Ink: Essay: Ezra Klein and Ta-Nehisi Coates
[^7]: The New Yorker: Ezra Klein Argues for Big-Tent Politics
[^8]: WNYC Studios: The New Yorker Radio Hour
