Rentenpaket II: Merz’ Pyrrhussieg einer Regierung, die sich Zeit statt Lösungen kauft
Vor gut zehn Tagen habe ich über den Rentenstreit geschrieben – über einen Prozentpunkt, der die Koalition zu sprengen drohte. Damals war noch offen, ob die Regierung diese erste große Bewährungsprobe überstehen würde. Gestern kam die Antwort: 318 Stimmen für das Rentenpaket. Gerade mal zwei über der von Kanzler Merz geforderten „Kanzlermehrheit“ von 316.[1]
Ein Sieg, der sich wie eine Niederlage anfühlt. Sieben Unionsabgeordnete stimmten gegen das eigene Gesetz.[2] Was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, war kein Ausweis politischer Stärke, sondern ein monatelanges Psychodrama einer Regierung, die schon bei ihrem ersten großen Vorhaben an den Rand des Abgrunds geriet. Die entscheidende Frage ist nun: War das eine Ausnahme – oder wird das die neue Normalität?
Der Rückblick: Vom Streit zum Showdown
Die Vorgeschichte ist bekannt. Die Junge Union blockierte, die SPD mauerte, Merz versuchte zu vermitteln. Der Kern des Streits: Soll das Rentenniveau ab 2032 bei 48 Prozent oder bei 47 Prozent weiterlaufen? Ein Prozentpunkt Unterschied, 120 Milliarden Euro Mehrkosten bis 2040. Beide Seiten hatten sich in Maximalpositionen verrannt.
Die Einigung kam in letzter Minute: Zustimmung jetzt gegen eine Rentenkommission später. Die soll bis Sommer 2026 das „Rentenpaket II“ erarbeiten – also genau das tun, was sie ohnehin hätte tun sollen, statt jetzt schon Vorfestlegungen für 2032 zu treffen.[2] Ein klassischer Formelkompromiss: Man verabschiedet wissentlich ein mangelhaftes Gesetz und lagert die eigentliche Problemlösung in die Zukunft aus.
Das Ergebnis der Abstimmung zeigt die Zerbrechlichkeit der Koalition. Nur zwei Stimmen Puffer bei einem Gesetz, dem die eigene Regierung zugestimmt hatte. Das ist kein Zeichen von Stärke.
Was lief schief? Handwerkliche Mängel
Die vergangenen Wochen waren ein Lehrstück in schlechtem Regierungshandwerk. Merz versuchte, interne Kritiker mit Basta-Politik zu disziplinieren. Sein Auftreten gegenüber der Jungen Gruppe („Das wird doch wohl noch euer Kanzler sein!“) wirkte paternalistisch und kontraproduktiv.[3] Druck erzeugt Gegendruck – die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten.
Statt seine Leute inhaltlich zu überzeugen, musste Merz betteln und drohen. Der Tagesspiegel brachte es auf den Punkt: „Gewonnen und doch verloren.“[4] Merz hat zwar das Gesetz durchgebracht, aber Autorität eingebüßt. Ein Pyrrhussieg.
Jens Spahn als Fraktionschef schnitt nicht besser ab. Der wirtschaftsliberale Politiker musste plötzlich eine teure Sozialreform verteidigen, die seinem eigenen Flügel widerspricht. Seine Glaubwürdigkeit hat gelitten.[5] Dass es überhaupt zu einer öffentlichen Revolte und einem offenen Brief der Senioren-Union gegen die eigene Parteiführung kam, zeigt: Das Fraktionsmanagement hat versagt.
Die gesamte Koalition wirkte in diesen Wochen erpressbar. Die SPD drohte mit dem Aus, die Union knickte ein. Man verabschiedete wissentlich ein mangelhaftes, teures Gesetz und lagerte die eigentliche Problemlösung in die Zukunft aus.[6] Das IFO-Institut nennt das einen „Kuhhandel“ – und die Kritik trifft ins Schwarze.
Die zentrale Frage: Ist diese Regierung handlungsfähig?
Und jetzt? Die Regierung hat sich Zeit gekauft, keine Probleme gelöst. Die entscheidende Frage ist: Können wir uns weitere solcher Debakel leisten? Die To-Do-Liste ist lang. Haushalt 2026, Wirtschaftskrise, Bürokratieabbau, Verteidigung, Digitalisierung. Haben wir bei jedem dieser Themen nun wochen- oder monatelange öffentliche Machtkämpfe zu erwarten?
Die bisherige Bilanz spricht nicht gerade für Optimismus. Die Kanzlerwahl war ein Reinfall – Merz verfehlte die absolute Mehrheit krachend.[7] Die Richterwahl am Bundesverfassungsgericht endete im Chaos. Beim Rentenpaket kam die Regierung mit einem blauen Auge davon. Aber das kann nicht die Normalität der nächsten drei Jahre werden.
Das Problem ist strukturell. Die Koalition hat keine stabile Mehrheit, keine gemeinsame Vision, keine Vertrauensbasis. Was sie zusammenhält, ist nicht Überzeugung, sondern die Alternativlosigkeit. Niemand will Neuwahlen. Niemand kann sich eine andere Konstellation vorstellen. Also wurstelt man sich durch, von Krise zu Krise.
Die AfD als lachender Dritter
Über allem schwebt die AfD. Sie muss nichts tun. Nur zuschauen. Zusehen, wie die „Altparteien“ streiten, statt zu liefern. Zusehen, wie Vertrauen verspielt wird.
Besonders alarmierend: In der Altersgruppe der 35- bis 64-Jährigen – der arbeitenden Mitte, die die Rente finanziert – vertrauen mittlerweile mehr Menschen der AfD beim Thema Rente als der SPD.[8] Diese Gruppe fühlt sich doppelt belastet: hohe Beiträge zahlen, aber keine Aussicht auf eine adäquate eigene Rente. Wenn die Regierung diese Leistungsträger verliert, ist der Weg zur Radikalisierung der politischen Mitte geebnet.
Die AfD nutzt das Narrativ geschickt: „Geld für die Welt, aber nicht für Oma.“ Solange die Regierung mit sich selbst beschäftigt ist und keine Ergebnisse liefert, bestätigt sie genau dieses Bild. Die AfD braucht gar keine eigenen Lösungen zu präsentieren. Sie profitiert allein von der Dysfunktionalität der anderen.
Was nun?
Die Regierung Merz steht vor einer Weichenstellung. Entweder sie ändert radikal ihren Modus Operandi, oder sie wird scheitern. „Weiter so“ ist keine Option.
Drei Dinge sind jetzt entscheidend: Erstens muss Merz seinen Führungsstil ändern. Vom Opposition-Attacke-Modus in den präsidialen Moderationsmodus. Die Junge Gruppe muss aktiv in die Rentenkommission eingebunden werden, nicht als Störenfriede behandelt. Nur wenn die Kritiker das Rentenpaket II als ihren Erfolg verkaufen können, hält der Frieden.
Zweitens braucht es einen Themenwechsel. Weg von Verteilungskämpfen, hin zu Wachstum. Die Wirtschaft stagniert. Bürokratie lähmt. Energiekosten explodieren. Wenn der Kuchen nicht wächst, werden die Kämpfe um die Stücke immer brutaler. Ein erfolgreicher Wirtschaftsgipfel mit konkreten Entlastungen würde zeigen: „Wir kümmern uns um die Einnahmen, nicht nur um die Ausgaben.“
Drittens darf die Rentenkommission keine „Laberrunde“ werden.[9] Sie muss bis Sommer 2026 echte Strukturreformen liefern. Aktienrente, längere Lebensarbeitszeit, Erwerbstätigenversicherung – irgendetwas Substanzielles. Nicht wieder nur Formelkompromisse. Ein erneuter öffentlicher Streit kurz vor der nächsten Wahl wäre das Todesurteil für die Koalition.
Die Wahrheit ist: Es gibt keine Alternative zu dieser Regierung. Aber genau deshalb muss sie jetzt liefern. Ruhe nach innen. Fokus nach außen. Ergebnisse statt Drama. Sonst übernimmt am Ende jemand anderes – und das wird nicht schön.
Quellen
[1] Tagesschau: Abstimmung Rente – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/abstimmung-rente-100.html
[2] Handelsblatt: Rentenpaket 2 – https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundesregierung-keine-laberrunde-union-und-spd-kuendigen-rentenpaket-2-an/100179040.html
[3] Focus: Druck erzeugt Gegendruck – https://www.focus.de/die-debatte/druck-erzeugt-gegendruck-leser-bewerten-renten-machtkampf_037a8a05-dd8f-4567-84b7-fe0e0ee2df60.html
[4] Tagesspiegel: Merz gewonnen und verloren – https://www.tagesspiegel.de/politik/der-kanzler-am-tag-des-rentenvotums-friedrich-merz-hat-gewonnen-und-doch-verloren-15019653.html
[5] NDR: Spahn Fraktion – https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/caren-miosga/rueckschau/steht-die-mehrheit-fuer-rentenpaket-herr-spahn,miosga-sendung-224.html
[6] MDR: Rentenstreit Einordnung IFO – https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/rentenstreit-einordnung-ifo-ragnitz-interview-100.html
[7] BR: Merz Kanzlerwahl – https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/keine-mehrheit-fuer-merz-bei-kanzlerwahl-im-bundestag,UkIE2xB
[8] Infratest Dimap: ARD Deutschlandtrend Dezember 2025 – https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2025/dezember/
[9] Handelsblatt: Rentenkommission keine Laberrunde – https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundesregierung-keine-laberrunde-union-und-spd-kuendigen-rentenpaket-2-an/100179040.html
