Man darf ja nichts mehr sagen
Wenn Schweigen zur Staatsdoktrin wird: Die neue Realität der Meinungsfreiheit
Das Narrativ „Man darf ja nichts mehr sagen“ war lange Zeit ein Running Gag. Meist kam es von Leuten, die anschließend stundenlang genau das sagten, was sie angeblich nicht sagen durften. Die Ironie war offensichtlich. Doch in den letzten Monaten hat sich etwas fundamental verschoben. Das Narrativ wird zur Realität – und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks.
Journalisten unter Beschuss: Deutschland und die USA im Gleichschritt
Deutschland erlebt eine beispiellose Welle der Einschüchterung gegen kritische Journalisten. Dunja Hayali sah sich nach ihrer sachlichen Einordnung des ermordeten Rechtsextremisten Charlie Kirk einer Hasswelle mit über 20.000 Posts ausgesetzt, davon 5 Prozent Hate Speech[^1]. Kommentare wie „hoffentlich erschießt dich einer“ zwangen sie zur Onlinepause[^2]. Julia Ruhs wurde beim NDR intern sabotiert – Kollegen arbeiteten in Chatgruppen monatelang an ihrer Absetzung, weil sie „unbequeme Themen wie Migration“ aufgriff[^3]. Elmar Theveßen geriet ins Visier von Richard Grenell, der öffentlich den Entzug seines US-Visums forderte[^4].
In den USA geht die Trump-Administration noch direkter vor. Jimmy Kimmel und Stephen Colbert wurden vom Bildschirm verbannt – offiziell aus „finanziellen Gründen“, tatsächlich nach FCC-Drohungen[^5]. CBS zahlte Trump 16 Millionen Dollar Schweigegeld zur Beilegung einer Klage[^6]. ABC, YouTube, Meta – alle zahlen Millionen, um regulatorischen Ärger zu vermeiden[^7]. Die New York Times steht vor einer 15-Milliarden-Klage – mehr als der gesamte Marktwert des Unternehmens[^8]. Das Muster ist klar: Finanzielle Erpressung, juristische Belagerung, staatliche Drohungen.
Die Psychologie des Schweigens: Warum 84% der Deutschen sich selbst zensieren
Die Zahlen sind alarmierend. Zwischen 54 und 84 Prozent der Deutschen haben das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können[^9]. Nur noch 40 Prozent glauben laut Allensbach, man könne heute seine politische Meinung frei sagen – der tiefste Wert seit 1953[^10].
Besonders ausgeprägt ist die Angst bei jüngeren Menschen. 40 Prozent der 18- bis 29-Jährigen trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen – bei den über 70-Jährigen sind es nur 18 Prozent[^9]. Die Generation, die mit unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten aufgewachsen ist, fühlt sich am stärksten zensiert.
Die gefühlte Meinungsfreiheit variiert dramatisch nach politischer Orientierung. Während sich 75 Prozent der Grünen-Wähler frei fühlen, sind es bei AfD-Wählern nur 12 Prozent[^11]. Das zeigt: Mainstream-konforme Meinungen gelten als „sicher“, abweichende als riskant.
Die Angst ist nicht irrational. Soziale Medien schaffen permanente Öffentlichkeit, in der jede Äußerung gescreenshottet und viral gehen kann[^12]. Shitstorms haben messbare Konsequenzen: Kündigungen, Rufschädigung, psychische Belastung[^13]. In der Wissenschaft zensieren sich 76 Prozent der Nahostforscher bei Israel-bezogenen Themen – je prekärer die Beschäftigung, desto stärker die Selbstzensur[^14].
Das Dilemma des Diskurses: Wann reden, wann schweigen?
Hier wird es kompliziert. Denn die Frage „Wie gehe ich mit Meinungsgegnern um?“ hat keine einfache Antwort. Die Forschung zeigt: Menschen ändern ihre Meinung selten durch bessere Argumente[^15]. Starke Gegenargumente verstärken oft sogar bestehende Überzeugungen – der „Confirmation Bias“ schlägt zu[^16].
Psychologen unterscheiden zwischen „gesundem“ und „toxischem“ Zweifel. Gesunder Zweifel ist offen für Gegenargumente, faktenorientiert und bereit zur Meinungsänderung. Toxischer Zweifel will nur bestehende Meinungen bestätigt sehen und argumentiert mit „gefühlten Wahrheiten“[^17]. Bei toxischem Zweifel sind rationale Diskussionen oft kontraproduktiv.
Das führt zu einem Paradox: Diskursverweigerung kann Echo Chambers verstärken. Menschen ziehen sich in geschlossene Räume zurück, wo sie sich gegenseitig bestätigen[^18]. Algorithmen verstärken den Effekt – je schriller der Inhalt, desto mehr Aufmerksamkeit[^19]. Negative Bestätigung wird als Beweis der eigenen „Wahrheit“ interpretiert.
Andererseits: Widerspruch ist wichtig für „stille Mitleser“. Er verhindert die Normalisierung extremer Positionen[^17]. Doch endlose, fruchtlose Diskussionen verschwenden Ressourcen und legitimieren oft extremistische Positionen.
Meine Einschätzung: Strategisch sprechen, nicht prinzipiell schweigen
Man kann heute so viel sagen wie noch nie. Technisch war es nie einfacher, eine Meinung zu äußern – jeder hat potenziell ein globales Publikum. Man darf auch rechtlich mehr sagen als je zuvor. Die formale Meinungsfreiheit ist in Deutschland so stark geschützt wie selten in der Geschichte.
Aber muss man alles sagen? Nein. Selbstzensur ist nicht per se problematisch – sie kann Höflichkeit, Respekt und strategisches Kommunizieren bedeuten.
Sollte man alles sagen? Definitiv nein. Meinungsfreiheit endet dort, wo sie andere Grundrechte verletzt. Verleumdungen, Beleidigungen, Aufrufe zu Gewalt bleiben verboten – zu Recht.
Das eigentliche Problem liegt woanders: Wir müssen zwischen Wahrheit und Meinung unterscheiden. Es gibt nur eine Wahrheit, aber viele Meinungen. Diskurs ist das Werkzeug, um gemeinsam der Wahrheit näherzukommen. Doch was passiert, wenn die andere Seite nicht mehr zuhört? Wenn sie ihre eigenen „Wahrheiten“ generiert und jeden Widerspruch als Angriff wertet?
Ich glaube nicht an pauschale Diskursverweigerung. Aber ich glaube auch nicht an endlose Diskussionen mit Menschen, die faktisch nicht mehr erreichbar sind. Die Kunst liegt darin, schnell einzuschätzen: Ist mein Gegenüber noch für Argumente zugänglich?[^15] Wenn ja, lohnt sich das Gespräch. Wenn nein, verschwende ich meine Energie besser nicht.
Wichtiger noch: Bei vielen Diskussionen geht es gar nicht um das direkte Gegenüber. Es geht um die stillen Mitleser, die noch nicht entschieden haben[^17]. Für die lohnt sich Widerspruch – nicht um den Verschwörungstheoretiker zu überzeugen, sondern um zu zeigen: Es gibt auch andere Sichtweisen.
Diskursverweigerung vergrößert das Problem nur dann, wenn sie pauschal erfolgt. Wenn wir Menschen ausgrenzen, bevor wir überhaupt versucht haben, mit ihnen zu reden. Aber wenn jemand seine „Wahrheit“ gefunden hat und jeden Widerspruch als Beweis für eine Verschwörung wertet? Dann ist Diskursverweigerung nicht das Problem – sondern die einzig sinnvolle Reaktion.
Die Ironie ist perfekt: Ausgerechnet jene, die jahrelang über Political Correctness klagten, etablieren nun ein System echter Zensur. Und die Mehrheit? Schweigt. Nicht weil sie darf oder nicht darf – sondern weil sie nicht mehr traut.
Eine Demokratie, die auf Schweigen statt auf Diskurs basiert, hat aufgehört, eine zu sein. Aber eine Demokratie, die endlose Debatten mit Demokratiefeinden führt, verschwendet ihre Energie. Die Lösung liegt in strategischer Kommunikation: Mit denen reden, die noch zuhören. Denen widersprechen, die andere gefährden. Und die ignorieren, die nur Aufmerksamkeit wollen.
Manchmal ist Schweigen die lauteste Antwort. Manchmal ist Sprechen die wichtigste Tat. Weisheit liegt darin, den Unterschied zu erkennen.
Quellen
[^1]: Polisphere (2025): Der Hass gegen Dunja Hayali in Zahlen
[^2]: Taz (2025): Nach Social Media-Shitstorm
[^3]: Bild (2025): Cancel Culture beim NDR: Julia Ruhs wehrt sich gegen Mobbing-Angriffe
[^4]: Tagesschau (2025): Reaktionen auf Hetze gegen Theveßen
[^5]: Time Magazine (2025): Trump-Kimmel Feud History
[^6]: Reuters (2025): Trump Says He Received $16 Million Payment After Paramount Lawsuit Settlement
[^7]: NBC News (2025): YouTube: $24 Million to Settle Trump Lawsuit
[^8]: CNN (2025): Trump Lawsuit New York Times
[^9]: Kettner Edelmetalle (2025): Meinungsfreiheit in Deutschland: Ein erschreckendes Zeugnis der Selbstzensur
[^10]: Zeit Online (2023): Meinungsfreiheit Zensur Studie Freiheitsindex Deutschland 2023
[^11]: Focus (2025): Gastbeitrag von Rainer Zitelmann: Umfrage zur Meinungsfreiheit
[^12]: New Communication: Cancel Culture: Todesurteil oder Chance für Change?
[^13]: Saferinternet.at: Mit Shitstorms souverän umgehen
[^14]: Deutschlandfunk (2025): Junge Forschende üben Studie zufolge Selbstzensur beim Thema Nahost
[^15]: CRM Manager: Zielführende Kommunikation: 10 Tipps im Gespräch überzeugen
[^16]: Media Perspektiven (2019): ARD-Forschungsdienst: Confirmation Bias
[^17]: Zeit (2020): Das kannst du tun, wenn Freund:innen Verschwörungsmythen verbreiten
[^18]: Verfassungsschutz (2024): Rechtsextremismus im Internet
[^19]: NDR: Verschwörungstheorien PDF
